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Mittwoch, 8. Juni 2016

Wetterprophet

Auch er reiht sich nun ein in eine Liste von Menschen, die mir nie etwas bedeutet hatten, aber mich mein Leben lang begleitet hatten. Wie ein Schatten, wie die Wolken, wie die Blätter, wie die Kirschen, wie der Winter, wie der Herbst. Der Mann mit den buschigen Augenbrauen. Er trat von der Seite einen Schritt in die Mitte und drückte unauffällig an einem Knopf in seiner Hand. Hinter seinem Rücken erschien Europa. Darauf schien die Sonne oder es regnete, kleine Pfeile zeigten in Richtungen und Nummern waren verstreut – wie Maiskörner im Hof – am Bildschirm sichtbar. Der Wetterprohet, der Meteorologe ist gestorben. Und schon wieder ist es ein Stück meiner Kindheit. Mit seinen weißen Haaren und buschigen, schwarzen Augenbrauen war er der Papst der Witterung. Ein Mensch, den jeder kennt, aber keiner an ihn denkt. Wenn er weg ist, ist es ein Loch in der Seele. Ein unauffälliges Loch an diesem Kleidungsstück, von einer Motte hineingefressen, die auf den Namen Tod horcht. Aber das macht nichts. Er war nicht jung – nach einer Weile müssen Menschen gehen. Durch eine Tür gehen, dessen andere Seite keiner kennt. Dabei sind wir alle gleich. Schön wäre es, durch diese Tür zu gehen, wie der Wetterprophet – der Himmel kann ihm nichts neues zeigen.

Sonntag, 28. Februar 2016

Die blauen Katzen von Prag

Es waren Katzen von Prag. Zwei Stück, gerade mal so groß – bzw. so winzig – wie der Nagel an meinem kleinen Finger. Sie waren natürlich keine echte Katzen, sie waren jene Kätzchen, die man bei Männern und Frauen auf der besonders berühmten Brücke kaufen kann. Nicht nur Katzen, auch Touristen tummeln sich dort. C. hat sie mir gekauft. Von einer besonders unnetten Dame, die auf einem Klappstuhl saß und aussah, als ob sie ihre Ware nicht verkaufen wolle. Nach einem Streit kaufte C. mir die Katzen. Zur Schlichtung, damit wir uns wieder lieben. Man kann mich zwar mit Katzen meistens nicht kaufen, aber ich wollte nicht mehr streiten, mich sauer fühlen, ich freute mich über die Geste. Die zwei kleinen, blauen Kätzlein, die wackelten, wenn ich meinen Kopf drehte. Weil sie Ohrringe waren und sich bewegten, sobald ich mich bewegte. Und jetzt springen sie jedes Mal, wenn ich mein Google Drive öffne, auf mich zu. Dieses schöne Portraitfoto von mir, auf welchem ich besonders hübsch bin. In meinen Ohren die blauen Katzen von Prag. Wow, denke ich mir jedes Mal, dass ich in meinen Ordner gehe. Wow, ich sah echt toll aus. War erst vor zwei Jahren – gar nicht so lange her. Ich habe aber das Gefühl, es liegt eine ganze Galaxis mit all ihren Zeiten zwischen dem Bild von damals und dem Bild von heute.

Mensch, so eine schwere Krankheit, geht nun mal nicht spurlos am Menschen vorbei. Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich warte noch immer darauf, wieder jung zu werden, wieder Augenbrauen zu haben, wieder mich wohl zu fühlen, wieder keine ständig tropfende Nase zu haben. Alles ist ein bisschen besser, aber es ist noch immer nicht gut. Nur hier, auf meinem Blog, traue ich mich auszukotzen. Sonst kann ich mich ja nicht beschweren, während den Behandlungen war alles unmenschlich. Verrückt. Es ist jetzt fast 1,5 Jahre her, dass mich der Krebs gefunden hat und ich ihm meine Tür öffnen musste und mich ihm überlassen. Bald muss ich wieder zur Kontrolle, bald stecke ich wieder in Maschinen, stehe vor Schaltern, sage meinen Namen, bald sitzt wieder ein Arzt oder eine Ärztin vor mir, schaut in einen Bildschirm und schweigt erst, damit er/sie mir danach erklärt, was Sache ist. Ob alles gut ist oder... Und dann immer dieses Bild von mir, dass im Ordner ins Auge sticht, wenn ich an meinem Text weiterarbeiten will. Mit den blauen Katzen im Ohr, die sich bewegen, wenn ich mich bewege. Wo sie wohl stecken? Ich finde sie nicht mehr, sie sind verschwunden. Das Haus oder der Wirbel haben sie geschluckt. Sie sind schon öfters verloren gegangen – wie das Katzen so machen – aber für so lange Zeit waren sie noch nie weg. Jetzt bewegen sie sich nicht mehr, meine blaue Katzen aus Prag. Ich vermisse sie, wie ich mich vermisse, mich, die ich vor dem Krebs war.

Mittwoch, 13. Januar 2016

Im Badezimmer

Meine Schwester und ich stehen vor dem Badezimmerspiegel. Das ist nicht eine tägliche Situation. Sie in Norwegen, ich in Österreich. Sie mit drei Kinder, ich mit einem Vollzeitjob. Sie schaut, ob sie seit der Geburt schon abgenommen hat, ich, ob mir seit der Chemo noch ein Paar Augenbrauenhärchen ausgewachsen sind. Im Bad sind wir zwei immer am meisten "wir" und am meisten allein. Kein anderer darf unseren nackten Körper so ungeblümt sehen. Es ist das Gefühl der Heimat, denn wir müssen nicht an der Badezimmertür klopfen, nicht beim Duschen erschreken und vor allem können wir dann sehr viel lachen und alles hallt. Ich liebe meine Schwester sehr. Sie sagr mir, sie hätte sich nicht getraut – so wie ich – mit einer Glatze im Restaurant zu sitzen. "Ich bin zu eitel", sagte sie. Zum Glück war ich diejenige mit der Glatze, denn ich bin exzentrisch und nicht so eitel. Dann habe ich, als wir beide schon schlafen gegangen waren, nachgedacht, dass es nicht nur mein Exzentrismus war. Je mehr Chemos ich bekam, desdo weniger fühlte ich mich, wie ein Mensch. Eher wie eine komische Kreatur. Keine Person, die sich in der Früh in den Spiegel schaut und die schlechte Nacht aus dem Gesicht zu glätten versucht. Wie ein Tier habe ich nur versucht zu essen, zu trinken, zu schlafen, eben die Basisbedürfnisse zu lindern. Was ich anhatte, wer mich ansah, wer was über mich dachte, das interessierte mich wirklich nur selten. Wenn es mich interessierte, sah ich – voller Wehmut – alte Fotos von mir selbst an, wie von einer Toten, die man mächtig vermisst. Ein Jahr und eine Prise lang hat es gedauert, bis ich wieder in den Spiegel schauen konnte, dass ich in der Früh mein Gesicht zu glätten versuche, meine Haare in Schuß zu bringen und mein Leben zu leben, wie ich es vor meinem ungewollten "Sabbatical-Jahr" getan habe.

Mittwoch, 4. November 2015

Härchen

Es ist schon fast alles beim alten. Nur ist es komisch in den Spiegel zu schauen und kaum Augenbrauen zu sehen. Noch immer nicht. Einen Stift zu nehmen und mir einen zu malen, wie es doch so viele tun, ist mir fremd. Manchmal mache ich es trotzdem, denn ich glaube, dadurch werde ich mich wieder Ganz fühlen. Restauration, sozusagen. Dann vergesse ich aber tagsüber, dass ich mir Augenbrauen gemalt habe und wenn ich mein Gesicht reibe - was ich anscheinend ständig tue - reibe ich meine Augenbrauen halb ab oder verschmiere sie auf meiner Stirn. Ein lächerliches Problem und trotzdem. Diese Augenbrauen stehen nicht nur für Haare, die einem über den Augen wachsen, sondern für meine Identität. Sie bedeuten die Zeit mit meinen Freunden, das viele Lachen, die Capuccinos und Caffe Lattes, sogar die Kotzerei, die am Ende der tollsten Parties folgte und sie sind die Küsse, die ich vergessen habe zu küssen und die anderen Küsse, die ich überflüssigerweise geküsst habe und die Brücken, die Stadtteile aneinander haftete und auch sind sie alles, was mit Unbeschwertheit und Unsterblichkeit zu tun hatte. Und ich habe sie auch noch gezupft! Das würde ich heute nicht mehr tun...

Die Augenbrauen, die meine Studienkollegin immer beneidete. Die mir jeden Tag, wenn wir uns an der Uni getroffen haben, sagte, dass ich die tollsten Augenbrauen habe und meine Tante, die es ebenfalls bei allen unseren Begegnungen bemerkte. Und für mich war es damals natürlich und ein blöder stolz kam in meinem Bauch hoch, aber zwei Sekunden später habe ich es schon vergessen. Heute fallen sie mir jeden Tag ein. Jeden Tag, in der Früh im Spiegel schauend, Zähne putzend, sogar wenn ich in der Arbeit auf Klo gehe. Jedesmal schaue ich mich im Neonlicht an, beuge mich nah an den Spiegel heran und zähle die kleinen Haare, die kommen. Ich frage C. jede Woche: Ich habe schon mehr, oder? Und er sieht in mein Gesicht und fährt mit seinem Finger drüber. Ja, doch ,ja - sagt er euphorisch und wir freuen uns gemeinsam über jedes Härchen, dass stärker als die anderen ist, dass schwärzer als die anderen ist und an diesen Härchen halte ich mich fest.

Montag, 17. August 2015

Gurkenglas

Vielleicht ist es, weil ich Essiggurken so gerne esse. Vielleicht ist es, weil ich als Kind so viel Fußball gespielt habe. Vielleicht ist es, weil meine Mutter Salat nach Tschernobyl gegessen hat. Vielleicht ist es, weil ich viel grünen Tee getrunken habe. Oder viel ungarische Salami gegessen. Oder viel Paprika. Oder viel Zwiebel. Manchmal macht es mich verrückt. Wenn jemand erzählt, dass Gurkengläser durchstrahlt werden, vor dem die Essiggurken hineinkommen. Bei allen? Bei allen. Damit keine Rückstände einem die Kehle von Innen zerschneiden: Nur so sieht man die kleinen Glassplitter. Manchmal ist die Strahlung zu hoch. Es piepst laut. Scheiße – bis man es bemerkt, sind dreihundert Gurkengläser schon am Markt. Ich liebe Essiggurken. Ich esse mindestens fünf Kilo pro Jahr. Ich will nicht daran denken, dass die Essiggurken daran schuld sein könnten, dass ich Krebs hatte. Oder meine Mutter, weil sie 1986 grünen Salat zu den Käsenockerln gegessen hat und mit mir schwanger war. Oder dass einer dieser wilden Jungs schuld ist, der mir den Fußball in die Brust geschossen hat. Ich habe keine Luft bekommen, so heftig war der Schuss. Heute bekomme ich keine Luft, wenn ich an den Krebs denke. Er ist außerirdisch, weil ich nicht weiß, wo und was ich ändern könnte, damit er nicht zurückkommt. Und ich weiß nicht, wo er wohnt und wo er sich wohlfühlt – damit ich ihm es so ungemütlich, wie möglich in mir machen könnte. Sollte ich keine Essiggurken mehr aus dem Geschäft essen? Oder keine Pilze aus dem Wald? Oder keine Fische aus dem Mittelmeer? Ich habe das Gefühl, ich habe mit der Diagnose meine Unsterblichkeit verloren. Mit der ich jedoch noch mindesten sechzig Jahre gezählt hatte.

Donnerstag, 9. Juli 2015

Abschiedsbrief

Lieber Krebs, ich habe mir gedacht, nun ist es an der Zeit von einander Abschied zu nehmen. Du hast mich begleitet, ob ich wollte oder nicht. Du warst mein saurer Regen, mein Bürgerkrieg im eigenen Körper, mein Sandkorn im Werk. Es ist höchste Eisenbahn, dass ich dich verabschiede. Mit dem, dass du jetzt für immer zu meiner Geschichte gehörst, habe ich mich – so glaube ich es – abgefunden. Dass du für immer in meiner Chronik stehst, unter September 2014. Obwohl du dich ja anfangs gar nicht bemerkbar gemacht hast. Schön langsam bist du in mein Wasser hineingeflossen. Wie Himbeersirup im Glas, das sich schön langsam auflöst und erst nur eine rote Wolke im Wasser ist und im nächsten Moment färbt er alles ein. So bist du für mich gewesen. Erst kam die OP, dann die Chemo, dann die Bestrahlung. Plötzlich ging alles nur mehr um dich, 1,5 Zentimeter Stück schlechtes Fleisch. Falsches Fleisch, dass mich von innen nagte.

Die Hormontherapie läuft noch immer, wie auch die Antikörpertherapie. Aber langsam habe ich das Glas leer getrunken und das nächste werde ich mir selbst nachfüllen. Und kein Himbeersirup mehr, danke. Nein, etwas erfrischendes. Etwas mit Zitrone und Minze. Nur weiß ich nicht, was mir Minze und Zitrone bringen wird. Ich will von dir Abschied nehmen, das weiß ich. Aber ich habe auch Angst. Wie vor einem Stalker, der zurückkehren könnte. Ich fühle, in mir ist ein Tor, zugesperrt, zu dem ich den Schlüssel verloren habe. Der Schlüssel zur vorübergehenden Unsterblichkeit. Oder wenigsten zum Gedanlen daran. Meine Tage sind langweilig, ich habe das Gefühl mit jedem Tag verliere ich mehr von mir. Von meinen Wünschen, von meinen Träumen. Dass ich jetzt ein Stück näher an den Tod gerückt bin und trotzdem sich nichts geändert hat. Dass ich dem Tod vis a vis saß und er mich anlächelte und Ärzte um uns herumfuchtelten und ich zu den Ärzten und den Tod lächelte und ich nicht wusste, wer die Wahrheit sagte. Wer weiß, was für mich gut ist. Nicht einmal ich. Ich weiß es nicht. Noch immer nicht. Und dabei saß ich vor dem Tod und die Ärzte hielten und halten mich noch immer fest. Ich bin traurig, dass du mir mein 27. Jahr versaut hast. Dass du mir schwitzende Rücken geschenkt hast, einen schlechten Blick, eine schmerzende linke Brust, einen schwellenden Arm und einen Nagel am Zeh, den ich in Wien Westbahnhof verloren habe. Nun habe ich keinen Nagel am linken Fuß und dabei habe ich ihn doch lackiert und mir doch neue Sandalen gekauft. Ja, stell dir vor, neue Sandalen und die will ich wenigstens so lange tragen, wie die alten. Acht Jahre. Ich kaufe mir Sandalen für acht Jahre und du sollst das bitte akzeptieren. Mehr habe ich nicht zu sagen. Am besten du kommst nie wieder zurück. Das wäre mir wirklich am liebsten. Und wenn du den Nagel in Wien Westbahnhof finden würdest, behalte ihn als Andenken an das, was du getan hast.

A.

Mittwoch, 15. April 2015

Marathon

Vor einigen Tagen hat es also angefangen. Der Klinik-Marathon in der Bestrahlungsabteilung. Sechs Wochen "Solarium" für die linke Brust, jeden Tag um acht Uhr in der "Linac 1". Ich weiß gar nicht, was Linac bedeutet. Aber in der Strahlenabteilung gibt es davon fünf. Oft mache ich mir Gedanken, wie sich wohl mein Körper verändern wird und das ich eigentlich nichts machen kann. Dass er sich nicht wegen seines Alters verändert, sondern wegen diversen Vorsichtsmaßnahmen. Dass ich jetzt wie ein Maori angemalt bin und ein blaues Rechteck mit wasserfestem Edding um meine Brust habe, ist eine Sache. Was innerhalb des Vierecks und den quer über meinen Körper gemalten roten Linien in diesen sechs Wochen passiert, das ist eine andere. Erst Vorgestern ist es mir bewusst geworden: Meine Brust ist nach dieser Behandlung nur noch ein Ausstellungsstück. Alles was hinter der Haut und Brustwarze ist, ist dann Pampa, verbrannt, ausgetrocknet, wie in einem Armageddon. Heute tut sie ein bisschen weh - als ob ich zu lange an der Sonne gewesen wäre. Aus meinem Dekollete kommen die Striche heraus. Ich muss sehr komisch aussehen. Mit meinem Baby-Monchichi-Kurz-Haar und dieser "Malerei".
Ich versuche daran zu denken, dass das gut ist. Dass meine Brust nur noch Deko sein wird, keine Milch produziert und überhaupt nichts macht, was es machen sollte, aber dafür auch keine Krebszellen produzieren kann. Es ist aber irgendwie schwierig anzunehmen, dass ich vor einem Jahr noch jung war und stark und gesund und nun etwas an mir nicht mehr stark und gesund sein wird. Und wenn ich einmal schwanger werde, lächerlich aussehen könnte. Weil die eine Brust anwächst und die andere nicht. Blöde Ängste im Vergleich zu dem, was ich gewinnen könnte: Gesundheit auf Dauer.
Mein Marathon ist noch immer nicht zu Ende. Seit Oktober laufe ich, laufe und laufe. Neben Schnee und Wind vorbei, auf Straßen mit und ohne Asphalt, neben Flüßen und Bergen und Blumen und Wiesen und blauen Himmel und weiße Sterne und mein Lauf wird langsamer, Tag zu Tag mühsamer und ich will endlich ankommen, dort an diesen Ort, an dem ich wieder jung und stark und gesund sein kann. Und dabei laufen einige Leute mit mir mit. Ein Stück, schauen mich an, lächeln, bedauern, bewundern, klatschen, lachen, sehen, hören, halten wieder an. Aber wenn ich ehrlich sein will, sehe ich euch nicht, weil ich eigentlich ständig alleine laufe.

Samstag, 14. Februar 2015

Liste

Ich habe gerade aufgelegt auf Skype. Mein Vater und meine Stiefmutter sagten durch den Bildschirm, gib nicht auf. Wenn ich schlechtgelaunt bin, wenn mein Arm anschwillt, wenn mein Bein anschwillt und sich die Nägel langsam von den Finger trennen, denke ich mir warum sollte ich nicht aufgeben. Auch jetzt, wo doch das schlimmste eigentlich vorbei ist, könnte ich aufgeben. Jederzeit kann man aufgeben, aber wenn man leben will, sollte man es nicht tun. Ich mag nicht aufgeben. Wenn wieder alles viel zu viel wird, dann bin ich einfach schlecht gelaunt und lasse meine Laune, wie einen wilden Hund auf meine Familie los. Obwohl sie für nichts können. Ich bin unfair mit C., ich werfe ihm Egoismus vor – ein großer Doberman, der aus C. ein Stück herausbeißt, aus seiner Geduld, aus seiner Liebe, dann bin ich unfair mit meinem Vater und werfe ihm Dinge an den Kopf, die ich nicht einmal überlegt habe, die mir zwischen den Zähnen hervorspringen und ihn am Nacken beißen, damit es auch ihm wehtut. Oder ich weiß nicht, warum ich es tue.

Heute bin ich zu meinem Leseplatz gegangen, oberhalb der Klamm – auf der grünen Bank im Wald scheint die Sonne am Längsten. Ich saß dort und sah auf Völs, auf Kranebitten, auf den Inn, auf die Lizum, auf den Himmel und dachte mir, was für ein herrlicher Tag und dann ging alles schief. Ein Paar Bemerkungen, ein Paar schlechte Gedanken, ein hängengebliebener Nagel oder eine kalte Brise – mich macht im Moment ganz viel und ganz schnell schlechtgelaunt. Dazu, dass ich wegen der Schwellungen meinen Arm kaum biegen kann und jetzt habe ich bemerkt, auch mein linkes Bein kann ich kaum bewegen. Auch dieser ist geschwollen. Lymphödem, das Lymphsystem kann nur schlecht arbeiten, das "Wasser" bleibt in den Gelenken hängen und man bekommt "Babyhände", wie gepolstert und unwahrscheinlich rund. Ich denke mir wirklich, wie kann aus einem Menschen auf einmal etwas so komisches werden. Als ob aus wenig auf einmal viel geworden wäre – ich weiß gar nicht, wie das sein kann. Wie der Körper das macht, dass er von einem Moment auf den anderen einfach aufschwillt. So viele Fragen, so wenig tatsächliches Wissen und ich weigere mich das Internet zu recherchieren. Das hat auch seine Gründe.

Ich saß also dort auf der grünen Bank, mit ganz viel Geduld im Bauch und in der Brust und hörte das Radio und hörte einem Mönch zu, der über Dankbarkeit sprach und über seine Jugend in Hitler-Österreich und darüber, dass man aus allem lernen kann. Auch wenn man für eine Krankheit nicht per se dankbar sein kann, kann man dafür dankbar sein, was man daraus lernen kann. Ja, man könnte auch dafür dankbar sein, aber vorher fällt mir noch anderes ein, für was ich dankbar sein möchte.

Hier also eine Dankbarkeits-Liste:
- Ich bin C. dankbar, weil er neben mir steht, obwohl das überhaupt nicht selbstverständlich ist. Er macht mir Abendessen und er kauft ein, er wascht die Teller und bereitet mir eine "Spezialmilch" zum Einschlafen und er zieht mich auf der Rodel den Berg hinauf, wie ein Pferd und er sieht mich mit Augen an, die sagen, dass ich auch aufgeschwollen, mit Glatze und tränenden Augen, eiterigen Fingernägeln und tropfender Nase, die schönste Frau auf Erden bin.
- Ich bin meiner Familie dankbar, weil sie mir ungeschönt ihre Meinung sagen, weil ich spüre, dass sie auch aus so viel Entfernung an mich denken, um mich bangen und ihre Zeit und ihr Geld für mich opfern würden, wenn ich sie dafür fragen würde.
- Ich bin meinen Freundinnen und Freunden dankbar, weil sie die Verknüpfung zur Realität sind, mich anrufen, mir schreiben, manche beten, andere denken an mich, sie halten mich am Boden, sind meine Wurzeln. "Viele drücken dir die Daumen" – sagte mein Vater letztens und der Gedanke tut sehr gut.
- Ich bin den vielen unbekannten Menschen dankbar, die für mich Geld gesammelt haben, damit ich auswählen kann, mit welcher alternativen Methode ich wieder gesund werde. Das Gefühl hat mich ein bisschen überrumpelt um ehrlich zu sein und ich weiß gar nicht, was ich mit dem Geld machen soll.
- Ich bin der Sonne dankbar, weil wenn sie scheint, kann ich sogar meine zwei Mützen im Wald sitzend ausziehen, ohne zu frieren, und das ist ein wirklich schönes Gefühl.

Tatsächlich wäre die Dankbarkeits-Liste sehr lang und deswegen höre ich hier auf, weil durch das Schreiben habe ich jetzt das Gefühl bekommen, welches ich gesucht habe: Den Willen geduldig zu sein und noch ein bisschen weiter darauf zu warten, dass die Nägel wieder wachsen, dass die Schwellungen verschwinden und dass mein Leben, mein Körper und meine Welt wieder ganz
normal wird.

Donnerstag, 29. Januar 2015

Statistik

es läuft gut – die chemo in meine adern
Heute ist die letzte Chemo. Ich sitze in diesem super nach hinten, nach vorne und nach unten verstellbarem grauen Kunstledersitz. Eine Mischung aus Bett und Stuhl, gemacht um sich möglichst gemütlich bei der Behandlung zu fühlen. Aber für mich war es beinahe immer ungemütlich. Meine Beine schliefen ein, mein Rücken war komisch gekrümmt und dabei hang ich gleichzeitig an einem Schlauch und den Blutsruckmesser. Nun ist es wirklich so weit: Die ersehnte, letzte Chemo, aber blöderweise habe ich ein ganz schlechtes Gefühl. Wie es nach der Schule war und dem Abitur, wenn man darauf wartet, dass es endlich vorbei ist, dieses jahrelange früh aufstehen, das ständig Notizen schreiben, die Hasuaufgaben, Prüfungen, die strengen oder einfach nur ungerechten Lehrer. Und dann ist es vorbei und man bleibt mit einer Frage allein: Was nun? Wie soll es weitergehen?

Um ehrlich zu sein, habe ich schweineangst. Weil ich glaube, die Chemo hat mich bisher "beschützt" – einfach alles (und noch ein bisschen mehr) zerstört, was mir nicht gut getan hat. Und nun werde ich nicht mehr beschützt und werde wahrscheinlich paranoid werden. Spüren, dass ich wieder einen Knoten habe, obwohl da keiner ist. Gestern habe ich so schlecht geschlafen. Als ob mich mein Körper in der Nacht mit Schweiß erwürgen wollte. Das Bett war so durchtränkt, dass ich alles ausziehen musste und die Decke mit der unteren Seite nach oben drehen, damit ich die Feuchtigkeit weniger spüre. Und dann lag ich da mit offenen Gedanken und konnte nich mehr einschlafen. C. schreckte paar Mal auf und ich streichelte seine hechelnde Brust um ihn im Schlaf zu beruhigen. Meine Augen blieben offen und ich hoffte, dass sie bald zufallen, ich nicht mehr schwitzen werde und nicht darank denken, dass ich nach der Chemo wieder vor Entscheidungen stehen werde: Strahlungstherapie ja oder nein, jahrelande Hormontherapie ja oder nein und alles im Zusammenhang auch noch mit Kinderwunsch ja oder nein. Denn jeder Therapie wirkt sich darauf aus und ich wollte doch Kinder und ich glaube meine Kinder wollten mich auch – denn ich würde eine gute Mutter werden und sie nie im Stich lassen.

Also bin ich beides. Erleichtert und verzweifelt. Es wäre toll zu wissen, was die richtige Entscheidung ist. Was danach kommt. Was mein Körper braucht und was überflüssig ist. Aber das wissen nicht einmal die Ärzte. Die können nur die Statistiken heranziehen und mir dadurch eine Diagnose stellen, einen weiteren Behandlungsweg. Aber ich bin ein bisschen skeptisch, denn Statistiken schienen in dieser Krankheit bisher nicht auf meiner Seite zu stehen. Laut Statistik sollte ich keinen Brustkrebs haben, laut Statistik ist mein "böser-agressiver" Tumor auch einer den nur 20% der Brustkrebspatientinnen haben. Hmm. Da wird einem eben bang ums Herz, wenn man wegen Statistiken irgendeine Entscheidung trifft, man selbst doch aber nur ein kleines Teilchen dieser Zahlen ist und trotzdem alles möglich ist. Was ich aber sicher weiß: Ich mache eine rieisige Party, wenn es schönes Wetter wird. Ich werde mit Freunden feiern, mit Kesselgoulasch, transylvanischem Kürtös Kalacs, gutem Wein, Fernetcola und Apfelsaft mit Sodawasser. Und ich vergesse mal für einen Abend, dass ich Entscheidungen wegen Statistiken treffe und ich einen Kampf führe, den ich nie haben wollte und sich nicht wie ein Kampf anspürt, sondern wie eine lange Grippe.

Freitag, 23. Januar 2015

Mein Körper

badezimmer-stilleben mit glatze
Immer kurz vor der nächsten Chemo geht es wieder einigermaßen, aber seit Weihnachten hat sich das verändert. Die Tränen, die aus irgendeinem unbekannten und unausschöpfbarem Teil meines Körpers kommen, werden nicht weniger. Sie fließen über mein Gesicht in der Früh beim Aufstehen, wenn ich aus dem Haus gehe oder wenn mich jemand von zu nah anspricht. Nicht weil ich traurig bin, sondern weil sich mein Auge so entschieden hat. Es ist eine sehr unangenehme Nebenwirkung und auch höllisch nervig, denn sie fließen, wenn ich nicht schnell genug bin in meinen Kragen hinein und machen alles nass und kalt.

Seit dem ich die Diagnose bekommen habe denke ich öfters nach, wie mein Körper aufgebaut ist. Wie wenig ich eigentlich über mich selbst weiß. Was unter der Haut und zwischen meinen Knochen ist, was eine Zelle ist, wo sich meine Leber befindet, wie meine Lunge aussieht. Und dann fällt mir oft dieses Buch ein, welches wir noch in der Wohnung in Ungarn hatten und welches ich geliebt habe. Es war schon damals, als ich zwölf war, mindestens hundert Jahre alt und stand im Wohnzimmer am Regal. Eigentlich waren es zwei Bücher. Eins über die Frau und eins über den Mann. Vorne war die Anatomie ihrer Körper abgezeichnet. Ich setzte mich an Regentagen vor das Regal auf den roten Teppich und konnte stundenlang diese Zeichnung ansehen. Die Körper waren in unterschiedliche Schichten geteilt, die man hin und herschieben konnte, öffnen und zumachen, wodurch sich Organe finden ließen und wieder zudecken. Der Körper war nicht ganz wahrheitsgetreu, einige Dinge stimmten nicht, das wusste ich, aber es faszinierte mich trotzdem, wieviel in mein Körper hineinpasst. Das Herz, der Darm, Drüsen, Adern. Die Neugier für meinen Körper verschwand und als ich richtig Teenie wurde konzentrierte sich das ganze nur noch auf die Geschlechtsorgane und auf das Äußere – wie ich mich möglichst attraktiv selbstgestalten kann und es Beginn das große Vergessen, was eigentlich unter meiner Haut verborgen steckt.

Nun habe ich eine Glatze. Vieles hat sich verändert seit dem ich zwölf war und jetzt wünsche ich mir das Buch wieder, welches ich seit dem Umzug von der Wohnung in das Haus mit Garten nicht mehr gesehen habe. Ich will wieder die Schichten öffnen, die Organe verschieben und mich in den Körper wieder verlieren, mir bewusst machen wie mein Blut in meinen Adern fließt und alles ein bisschen besser verstehen.
Meine Glatze stört mich meistens nicht. Nur ab und zu. Zum Beispiel wenn ich in an einem verregneten Samstag ins Hallenbad gehe, fühle ich, dass ich nun auch von Außen anders bin. Weil mich Kinder über ihre Schultern anschauen und kichern oder kleine Mädchen in der Dusche verstummen, wenn ich eintrete. Ich habe mir gedacht, dass mich das nicht stören wird und auf einmal fühle ich, dass das nicht stimmt und es mich höllisch stört. Und ich denke mir, so muss sich ein Schwarzer oder eine Schwarze fühlen in einem kleine Dorf in Österreich, wie ich mich jetzt fühle. Alleine, einsam, anders, ausgegrenzt. Ich ging auch bald nach Hause, denn ich passte einfach nicht ins Samstagsbild des Hallenbades: Familien, gesund und schön, mit ihren kleinen und halbgroßen Kindern, die voller Energie ins Becken springen.

Ich bin schon ungeduldig, will meine Haare wieder, meine alten Augenbrauen, meine Wimpern, meine Energie, die seit zwei Chemos drastisch verschwunden ist. Meine Schritte fühlen sich an als ob ich Steine an meinen Schuhen mitschleppen würde. Ich wünsche mir meine alten Finger zurück, statt denen mit den schwarzen Höfen an den Nägeln, die manchmal so wehtun können, dass der Schmerz bis zu den Knieen hinaufkriecht, Meinen alten Arm will ich zurücck, statt diesen linkischen, der anschwillt wie ein Luftballon und sich nicht strecken lässt, als ob er auf mich beleidigt wäre. Aber jetzt ist es gleich vorbei und ich muss nicht mehr lange warten und denke mit Freude an die nächste Chemo und singe laut ein Lied im Badezimmer: "Chemo, letzte Chemo" mit der Melodie von "Cheek to cheek".

Dienstag, 13. Januar 2015

Ein Tag weniger

Meine Tage sind langweilig und niemand kann mir die lange Weile abnehmen. Die Stunden spuren wie Schnecken vor sich hin. Jedesmal versuche ich die Zeit dabei zu erwischen, dass sie schneller geht. Tut sie aber nicht. Sie sitzt in den Ecken, knabbert am Staub, fließt in den Rohren des Kühlschrankes, hört sich wie ein startendes Flugzeug an, dass viel zu langsam rennt und deswegen nicht abheben wird. Ich schaue Serien auf Netflix. Orange is the new black. Auf Englisch. Ich verstehe kaum was. Schaue aber stundenlang zu, wie weiß die Zähne von "Piper" sind oder wie mich "Alex" gleichzeitig an eine alte Freundin und an meine Exstiefmutter erinnert und derweil muss ich nicht nachdenken. Nicht zeigen, wie stark ich bin, wie gut ich das meistere. Ich sitze einfach im Sessel und lasse mich in den Bildschirm ziehen, mich aus meiner Haut fallen, die Hände hängen hinunter, der Fuß ist am Stuhl und ich denke daran, auch dieser Tag muss dann irgendwann zu Ende gehen. Auch in meinem Fenster muss der Abend erscheinen, auch hier wird er kommen und dann ist es ein Tag weniger. Nur weiss ich nicht, für was es ein Tag weniger wird?

Dienstag, 6. Januar 2015

Madonna

Am Bus zum Krankenhaus nimmt C. die kleine TT in die Hand. Blättert darin, Skispringer, Kleinanzeigen, Nachrichten, auf der letzten Seite endlich die Tabloide mit einem Bild von Madonna. Wir sehen uns ähnlich: Kleine Augen, geschwollene Backen – ihre von Botox, meine von der Chemo. Die Therapie hat mein Gesicht neugemalt. Ich erkenne mich kaum im Spiegel und wenn ich die Bilder der ersten Therapiesitzung mit heute vergleiche vergeht mir der Mut. Wie ein kaltherziger Maler hat der Krebs meine Züge neugestaltet, wie ein Architekt ohne Plan, wie ein Tischler ohne Hobel. Und ich bin machtlos. Auch wenn ich probiere mich selbst anzumalen, einen Plan oder eine Hobel zu finden, empfinde ich es nur als lächerlich. Wie eine alte Diva, die sich nicht abfinden kann, dass die Zeit sich auch aus ihrer Schönheit ernährt. Aber es ist verdammt schwierig sich damit abzufinden, dass an Weihnachten und Sylvester nur solche Familienfotos entstanden sind, an dem ich einfach nur fremd und unglücklich aussehe. Dabei fühle ich mich nicht besonders unglücklich oder fremd, nur die Reflexion zeigt mich so und das erschreckt mich.

Selfie mit Elfi, dem treuesten Plüschelefanten.
Ich war zwei Wochen – über Weihnachten – in Ungarn. Es war komisch dort im Plattenbau, in der Zwei-Zimmer-Wohnung meines Vaters. Die Rohren sprachen, der Wind peitschte an den Rollläden und ich lag in meinem alten Bett – eigentlich ein Sofa aus den 70-ern – und traute mich nicht Schmerzen zu haben. Dabei freute ich mich auf meinen Vater – er ist ein guter Krankenpfleger –, auf meine Muttersprache, auf die Rindfleischsuppe, den Pusztasalat, die eingelegten, kleinen, sauren Melonen. Neue Nebenwirkungen kamen. Hitzewallungen. Ich saß oder lag irgendwo und wie ein Tsunami brachen meine Poren aus. In einem Moment war mir heiß und im nächsten war ich klitschenass. Ich konnte nicht schlafen. Nicht nur wegen den Hitzewallungen, auch weil drei Stockwerke unter uns Freunde sich trafen und dabei Technomusik hörten und probierten diese zu überdröhnen und ein Gespräch zu führen. Am ersten Abend in Ungarn ging das so bis ungefähr 5 Uhr morgens und dann war ich schon komplett erschöpft, wie ein Marathonläufer den die Gelsen mit ihrem ständigen Sümmen nerven. Ich brach fast in Panik aus: So wird es noch zwei Wochen weitergehen und ich kann nicht weg von hier? Dann fühlte ich mich plötzlich alt und erbittert. Wie mein Vater sein kann. Und ich erschauderte und probte vor dem Spiegel und setzte mir künstliche Gesichter mit guter Laune auf um nicht, wie mein Vater auszusehen. Nach dem dritten Tag gab ich auf und ließ die miese Stimmung auf mir sitzen. Ich war endgültig erschöpft und konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich die letzte Nacht durchgeschlafen habe oder wenigstens mit einem erholten Gefühl am Morgen aufgewacht bin. Irgendwann kam Weihnachten, Baum schmücken, Weihnachtsessen essen und Weihnachtslieder singen. Meine Familie war da, aber ich war so weit. Heuer konnte ich nicht einmal Geschenke besorgen, konnte ich den Kalender für meinen Vater nicht zusammenstellen, die Stirnlampe für meinen Bruder finden, den Leatherman für C. Jeder bekam irgendwas und es war mir egal. Nur als ich dann selbst Geschenke bekommen habe, gut durchdachte, schöne und praktische Sachen, hatte ich kurz ein schlechtes Gefühl.

In den zwei Wochen habe ich meinen Vater sprechen lassen und hörte ihm nicht immer zu. Aber das machte ihm nichts aus und ich glaube er war froh, dass ich nicht weglaufen konnte und er mir erzählen durfte. Über seine Kindheit, über die Stadtregierung, über seine gesundheitlichen Beschwerden. Nur wenn er sich über mich gebeugt hat, mit Tränen in den Augen, mit einem supertraurigen Blick, dann musste ich ihn wütend rausschicken. "Lass mich in Ruhe, ich will keine Mandarine, keinen Tee, kein Brot mit Salami". Irgendwie ist es gleichzeitig schön, dass jemand mich so lieb hat, wie er und gleichzeitig nervig, dass ich meine Krankheit ständig in seinem Gesicht sitzen sehe. Er wollte, dass ich nach jeder Chemo – es sind noch zwei – nach Hause zu ihm komme. Zehn Stunden im Zug und dann die pfirsichfarbene Wände anschauen und Warten, dass die Schmerzen weniger werden. Er meint es ja nur gut, aber das ist nichts für mich, wenn ich wie eine kranke behandelt werde – ich lasse mich zu sehr auf die Rolle ein und dann ist es viel schwieriger aus ihr wieder herauszukommen. Ich bleibe lieber bei meinem Keller, dem kleinen Chaos und C. der mich nicht, wie eine kranke behandelt, sondern mit mir lacht, wenn ich ihm sage, dass ich wie Madonna aussehe oder wie gespiebene Gerstlsuppe.

Freitag, 12. Dezember 2014

Totenkopf

Schon seit zwei Wochen haben wir einen Totenkopf im Badezimmer. Zahnpaste an den türkisfarbenen Fliesen. Es sieht wirklich so aus: Die Augenhöhlen, der Schädel, dieser leere Platz wo einmal die Nase war. Nur die Zähne und der Kiefer fehlt. Wenn ich am Klo sitze, fällt mein Blick direkt darauf. Oder wenn ich in den Eimer kotze. Irgendwo habe ich gelesen, jeder muss sein "Kotzeimer" haben während der Chemo. Meiner ist vom Hofer. Irgendwann waren mal Äpfel drinnen. Oder Orangen. Und ich habe mir gedacht, der wird noch gut kommen. Ich schmeiße ihn nicht weg. Ohnehin habe ich ihn erst einmal in seiner neuen Funktion benutzt. Wahrscheinlich war die Kotzerei eh nicht von der Chemo. Aber ich bin eine schlechte Kotzerin. Für mich gibt's kaum was schlimmeres. Ich fühle mich immer als ob ich ersticken würde. Ich habe zu viel gegessen, mein Magen macht nicht mit – ich muss lernen, das Essen auch mal liegen zu lassen. Nicht wie ein Hund, alles aufessen, bis es was gibt. Der Eimer ist durchsichtig und hat das Hofer-Logo drauf "Da bin ich mir sicher". Das wird mein Kotz-Slogan. Den Totenkopf putze ich nicht weg. Einerseits, weil ich faul bin, andererseits ist er eine nette Erinnerung an die Sterblichkeit.

Samstag, 6. Dezember 2014

Ordner

Ich denke ständig an Altersheime. In Altersheime an Zimmer. In Zimmer an alte Menschen. In alte Menschen an gebrochene Herzen. In gebrochene Herzen an Erinnerungen und Wünsche. Irgendwie bin ich auch so ein alter Mensch. Die Chemo macht mich fertig. Im Kopf. Sie macht mich müde. Anfangs war ich neugierig, wie das so ist, so eine Chemo. Ich war neugierig auf die Symptome, die mit der Hand zu fassen sind. Kotzen, Gelenkschmerzen, Haarausfall. Ich glaubte, das wär's dann auch. Aber was die Chemo im Kopf macht, ist viel schlimmer und ich denke daran, dass ich nicht mehr will.  Und ich bin erst bei der Hälfte. Alle anderen sagen, ich bin schon bei der Hälfte. Früher hätte ich das sicher auch so gesagt, aber das ist das schlimme an dieser Behandlung. Ich will nicht mehr - und das hätte ich über mich selbst nie geglaubt.

Ich habe einen Ordner. Es steht brustgesundheitzentrumtirol drauf. In diesem Ordner ist alles drinnen, was mein Brustkrebs ist. Ich bin aber unordentlich. Ich fülle es mit Briefen von der TGKK, Tilak, mit Prospekten über vaginale Gleitmittel auf Wasserbasis (einer der schlimmsten Nebenwirkungen: Sex ist einfach als ob ich Glassplitter eingeführt bekommen würde - trotz Gleitmittel) und einem Comicheft in dem Kinder erklärt bekommen, was Brustkrebs ist. Letztere ist das einzige, was mir gefällt. Jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus gehe, wird die Mappe dicker und bunter. Aus irgendwelchem Grund machen sie die Prospekte immer besonders bunt, besonders schön, als ob die ganze Krankheit Spaß machen könnte. Naja, sicher ist es keine Lösüng alles grau und schwarz zu machen. Das ist auch nicht die richtige Farbe. Es gibt einfach keine richtige Farbe für eine Krankheit.

Ich hasse Papierkram. Ich weiß nie, was wichtig ist, was nicht. Was darf ich wegschmeißen, was auf keinen Fall. Letztens habe ich wieder den falschen Pass mitgebracht. Statt Chemopass den Ambulanzpass. Der Chemopass ist blau und in ein Plastik eingehüllt. Da schreibt Dr. Salzer meine Gifte hinein. 120 mg, 572,15 mg und 600 mg. Mein Cocktail, der danach durch meine Adern rast. Wie ein verrückter Ritter schlägt er mich mit seinem Schwert von innen, so stelle ich mir meinen Cocktail vor. Rot, im Panzer, schwer, verrückt. Ich habe heute zum erstenmal in den Pass geschaut. Seit der ersten Chemo habe ich mehr Leukozythen und weniger Trombozythen. Es könnte auch sagen, ich habe mehr asjoékéaksék und weniger posdjfopjpga. Was ich definitv habe ist "keine Ahnung". Das macht mich auch ziemlich fertig.   

Ich war heute mal spazieren. Hier hinter dem Haus, Richtung Klamm. Es tat mir wirklich gut. Frische Luft belebt, auch wenn man es beim losgehen überhaupt nich glaubt. Andere Spaziergänger waren mit ihren Hunden unterwegs. Alle. Wenn ich Leute mit Hunden alleine unterwegs sehe, denke ich immer daran, dass die Abendkultur vereinsamt. Die Menschen sich nur noch mit Tieren verstehen können oder überhaupt nicht mehr. Wie dieser Mann, der in Innsbruck in einer Wohnanlage gestorben ist. Nur dann fiel er anderen auf, als man seine Leiche schon im Flur riechen konnte. Schnell geht das. So zu vereinsamen. Und man brauch nicht einmal irgendwelche unmöglichen Probleme haben. Man muss nur ein bisschen blöd sein. Das Telefon nicht abheben, wenn Freunde anrufen - weil man einfach mit niemandem sprechen will (gleichzeitig will man und will man nicht). Hilfe nicht annehmen, wenn sie angeboten wird - weil man es ohnehin alleine schafft (man schafft es nicht und auch nicht zu zweit). Nicht ausgehen - weil man sparen will oder zu faul ist, sich "hübsch" anzuziehen. Und nach einer Weile bleibt man stecken und je länger man im "nihil" steckt, umso schwieriger wird es wieder herauszukommen.

Ich dachte an meine Oma, die 93 Jahre alt geworden ist. An ihre Ordner in ihrem Haus. Wie sie schon mit 80 von ihrem Sohn abhängig war, der ihren Papierkram erledigte. Alle zwei Wochen. Wenn er zu Besuch kam. Obwohl die Oma noch so klar im Kopf war. Das sagte man immer über ihr, weil sie das Radio hörte und bis zum Ende wusste, wer die aktuellen Minister im Parlament waren. Klarheit macht Angst, an Klarheit verzweifelt man, vielleicht ist es besser für einen selbst, wenn man diese Klarheit einfach verliert.

Ich habe diese Situation vor meinen Augen: Meine Oma in ihrem riesigen Zimmer, links der dicke, dunkle Holzschrank, oben ihre Ordner. Mein Vater (ihr Sohn) streckt den Arm aus, nimmt einen der schwarzen Ordner herunter, meine Großmutter pfeifft "Nein, Jostikám, den anderen - ich will erst den anderen". Mein Vater sagt nur, das hier ist viel wichtiger und Oma bleibt still, weil sie keinen Einfluss darauf hat, was mit ihren Dingen passiert, was ihr aus dem Geschäft gekauft wird, was sie zu Mittag zum Essen bekommt. Vielleicht hat sie deswegen die Hausierer geliebt, die Zigeunerinnen mit den Kissen und Decken am Rücken, die ihr durch das Fenster ihre Waren anboten und sie konnte wählen, ob sie die Daune nimmt oder die Schafwolle. Und an Weihnachten schenkte sie mir die Schafwolldecke und ich fand die Decke fabelhat und ihre Augen strahlten und sie kicherte leise und gerissen und ihr Kopf wackelte, weil sie Parkinson hatte. Mein Vater verscheuchte die Zigeunerinnen immer sehr laut. Wir kaufen nichts und schlug das Fenster zu.




Donnerstag, 27. November 2014

6. Stock

Ich hatte bisher überhaupt keine Angst vor der Chemo. Heute schon. Eigentlich schon in den letzte zehn Tagen. In denen ich jede Nacht schweißgebadet aufwachte. Und zwar mindesten fünfmal pro Nacht. Mein Körper ein heißer Ball. Dann ein kalter Fisch. Schnell, abwechselnd. Es fängt immer in meinem Nacken an, läuft über meinen Kopf und von dort breitet sich die Hitze in meinem ganzen Körper aus. Ich schmeiße die Decke auf den Boden – gefühlte drei Minuten später taste ich im Dunklen um sie auf meinen zitternden Körper zurückzuziehen.

Der Chemoraum ist im sechsten Stock der Frauen- und Kopfklinik. In der Mitte gibt es einen ovalen Tisch, ein Korb mit Bananen, Äpfeln, Sodawasser, Salz und Pfeffer, Zucker. Schöne Aussicht auf die Nordkette. Bisher war fast jede Chemo bewölkt. Heute am Nachmittag schien die Sonne auf einen Fleck auf den Bergen und kroch immer weiter hinauf, je später es geworden ist. Dann verschwand sie, weil das Fenster beendete und ich nicht bis zu den Bergspitzen sah.

Heute saß ich direkt neben dem Klo. Meine Ärztin heißt Salzer. Sie ist nett. Sie sagte "gratuliere - ich habe über deinen Preis gelesen". Manchmal überrascht's mich, dass Leute unsere Zeitung wirklich lesen. Dann Blutprobe, Harnprobe. Obwohl Salzer nett ist, hat sie mir heute ziemlich wehgetan. Sie fand keine Vene in meinem rechten Arm. Der Raum war beinahe voll, die kanadische Brustkrebspatientin bekam keinen Stuhl mehr, der automatisch umstellbar ist. Sie musst im "Relax-Sessel" sitzen. Salzer stach und stach un stach in meinen rechten Arm und es tat nur weh. Es spritzte kein Blut in die Plastikröhre wie sonst. Dann ging sie auf meinen linken Arm über und entschuldigte sich. Ich sah C. an als sie stach. Diesmal war es weniger schmerzhaft und dann hörte ich mein Blut in das Plastik rauschen. Ich sah auf mein Blut. Dunkel, rot, schnell. Über 1,5 Stunden warten bis die Ergebnisse ankamen. Alles in Ordnung, die Chemo kann losgehen.

Ich bekomme immer vier Flaschen. Die 1. ist irgendwelche Infusion gegen Allergien, dann Fortecortin gegen Schwellungen und dann die zwei "Chemoflaschen", dessen Namen ich mir nicht merken kann. Salzer stellt sie mir wirklich, wie Weinflaschen vor. Cz. sagt sie und stellt sie vor meine Nase ob ich damit einverstanden bin. Ich nicke, natürlich bin ich damit einverstanden. Nur ist es leider kein Wein.

An der Wand gibt es sechs Bilder, eins mit einem Schmetterling. Ich frage mich, warum hängen diese kindischen Bilder hier. Sie sind beleuchtet, wie in einem Ausstellungsraum und wir Patienten sitzen uns gegenüber, wie andere Ausstellungsgegenstände.

Die ganz links ist groß, hart, stark. Eine Bäuerin vielleicht. Sie hat die wenigsten Haare. daneben sitzt eine neue. Die habe ich nie gesehen. Ihr Freund/Mann kommt in der Mittagspause mit einem I-Pad und zeigt ihr Fotos von einer Swarovski-Veranstaltung. Neben ihr sitzt die Frau mit dem lauten Mann. Heute sagt ihr Salzer etwas, daraufhin seufzt die Frau tief und ihr Mann schießt tatsächlich ein Bild mit dem Handy. "Man muss es festhalten, diese Scheißzeit". Neben ihr sitzt eine Türkin. Auch neu. Sie spricht mit der Putzfrau auf Türkisch. Dann spricht sie auch mit den Ärzten und Krankenpflegern auf Türkisch. Nur die Putzfrau versteht sie. Zu Mittag sagt sie "Frühstück". Der Pfleger fragte sie ob sie Schweineschnitzel haben möchte. Der Geruch füllt den Raum. Ich faste heute den dritten Tag und lese Rezepte und meine Nase funktioniert so stark, es treibt mich in den Wahnsinn. Der Geruch bleibt lange. Wir schauen Madagascar 2 am Laptop mit C. und lachen viel.

Zwischendurch wird die Infusion getauscht und peitschende Schmerzen laufen in meine Adern. Es zieht mich auch unten zusammen. Als ob jemand eine Nadel in meine Chlitoris gestochen hätte. Zum Glück gehen die Schmerzen so wie sie gekommen sind, schnell vorbei. Um vier Uhr fünfzig sind wir fertig. Zum Abschluss kriege ich eine lange Spritze in meinen Bauch. Es brennt höllisch. Mein ganzer Körper angespannt. Ich denke nur "scheiße, wie lange noch". Jedesmal habe ich das Gefühl, es dauert länger. Dann sagt die Ärztin "wir sind bei der Halbzeit, jetzt können sie zurückzählen" und ich gehe zum Aufzug – meine Beine fühlen sich wie zwei schwere Steine an – und verlasse den sechsten Stock. Erleichtert, dass ich drei schon hinter mir habe.

Flohmarkt, Sauna, Chemo

Flohmarkt

 

"Wie geht's eich?" fragt der Gemüseverkäufer am Flohmarkt. Er kommt jeden Sonntag aus Garmisch und hat einen Anhänger dabei, den er an der Seite aufmacht und unter einer Plane stehen dann Äpfel und Birnen und Khaki und Rucola.
Anfangs hat er mich immer über den Tisch gezogen und ich ließ mich von ihm verarschen, weil man das Gemüse anfassen durfte und es mich an mein Zuhause erinnerte. Er ist ein echter Verkäufer. Einmal sagte er, er schenkt mir die Melone, wenn ich ihm das genaue Gewicht sage. Er hat gewonnen und ich habe die acht Kilo dreihundert Gramm Melone gekauft. Heute verarscht er mich nicht mehr und erzählt von seinem Leben. Ich bin fasziniert. Er lebt seit über zwanzig Jahren in einem Wohnwagen. "Wir brauchen nicht's anderes, sind ja ständig unterwegs und auch in den Urlaub fahren wir mit dem Wohnmobil". Dann erzählt er über Istambul, wie toll die Stadt ist. Er war nur zwei Tage dort auf Urlaub, hat aber unsaglich viele Theorien gemacht. Wie unterschiedich die deutschen Türken sind von denen dort in Istambul. Er fragt nochmal ob's uns gut geht, als ob er es heute zum erstenmal tun würde. Ich sage, ja, dabei geht es mir überhaupt nicht gut. Ständig träne ich und meine Nase tropft, es ist schlimm, weil ich unzählige Papiertaschentücher verbrauche und meine Nasenspitze pocht als ob sie ihr eigenes Herz hätte. Auch mit meinem Spiegelbild ist es nicht einfach. Jetzt, dass die Wunde verheilt ist, sieht man das wirkliche Ausmaß der OP: ein wahrhaftiger Krater – dabei meint C. es sei überhaupt nicht schlimm, man sieht es kaum. Ich würde den Krater am liebsten füllen. Das geht aber nicht.

Wir schlendern durch das Chaos der Flohmarktstände. Uralte Skie, unheimliche Puppen, gebrauchte Kleider, Fotos wahllos zusammengewürfelt in einer Kiste. Ganz oben auf der Fotokiste ist ein Bild zu sehen, welches ich mag. Ein Pärchen im Studio, vllt. Ende der dreißiger. Sie im weißen Kleid, er mit einem dünnen Schnurrbart. Der dünne Schnurbart umarmt das weiße Kleid von hinten. Irgendwie rührend. Auf einmal kommt ein Junge. Wir haben was gemeinsam. Er ist acht Jahre alt, zirka, ich siebenundzwanzig. Er trägt keine Mütze. Ist ihm nicht kalt? Er hat nicht nur eine Glatze, auch seine Augenbrauen sind weg. Ich finde es unfair, dass er diesen Scheiß auch machen muss und dabei ist er so jung...

Sauna

 

Wir waren gestern in der Saunawelt in Seefeld. Die Rezeptionistin wollte meinen Studentenausweis nicht annehmen: Der ist abgelaufen. Der ist nicht abgelaufen. Es steht drauf, gültig bis 30. November. Dann kann er nicht abgelaufen sein. Ich bin in kämpferischer Stimmung. Sie haben sich nicht neu inskribiert, ihr Freund schon. Es steht trotzdem schwarz auf weiss, gültig bis 30. November. Dann druckt sie zwei Studententickets.

Kaum was los in der Saunawelt. Trotzdem treffen wir einen Bekannten. Einen alten Paragleiter. Natürlich kennt er C. Ich sitze auf einer Liegematte zwischen den beiden Männern. Sie unterhalten sich über mich hinweg miteinander. Übers Berggehen und Paragleiten. "Ich mag keine lauten Leute", sagt der Paragleiter. "Einmal bin ich mit wem gegangen, der hat tatsächlich eine Mini-Stereoanlage mit am Berg genommen. Hast du sie noch alle?", er zeigt auf seine Stirn. Er sieht wie der totale Redneck aus. C. mag ihn aber, weil er gute Paragleiter-Videos macht und auch Schirmhersteller ist. Am Arm hat der Paragleiter ein Tattoo. Wenn ich mich zu ihm drehe, ist es das was ich aus nächster Nähe sehe. Es ist Rund, in den Rand fließt ein Paragleitschirm ein, unten ist eine Hand – als ob sie eine Wahrsager-Kugel halten würde. Ich spreche ihn aber nicht an, denn anfangs macht er so als ob es mich nicht geben würde. Ich will weg, irgendeine andere Sauna ausprobieren. Wir gehen mit C. hoch in das Panoramabecken und schauen von dort die Berge an und ich frage mich, was das Tattoo wohl bedeutet hat.

Langsam füllt sich die Saunawelt. Gibt es überhaupt so viele Einwohner in Seefeld? Und das an einem Mittwoch-Nachmittag. Es gibt immer Leute, die einem auffallen. Die Saunamenschen: Ein alter Mann mit großer Nase, ein Pärchen bestehend aus altem Mann und junger Osteuropäerin (sehr hübsch, irgendwie total unpassend, aber "es ist besser mit einem netten, alten Herrn zu sein, als mit einem jungen Arschloch, der dich auch noch schlägt"), ein junger Mann mit Glatze. Ihn sehe ich nur einmal, aber auch wir haben etwas gemeinsam. Krebs. Ich habe noch vereinzelt Haare. Auf meiner Kopfhaut, am Rest des Körpers. Er ist sehr sportlich und läuft sehr schnell in das warme Aussenbecken hinein. Er ist ganz nackt. Ich sehe seinen ganzen Körper. Es ist wie ein Brandmark. Ich selbst sehe aber noch nicht aus wie Krebs, denke ich. Ich sehe aus wie ein kleines Hühnhen, dem die flauschigen Federn langsam ausfallen.

Bei der letzten Sauna gibt's Aufguss. Wirklich heiß, ich gehe zwei Minuten vor Ende raus. Schnell duschen, schnell anziehen, wieder mit der Rezeptionistin argumentieren. Diesmal wegen der Parkkarte. Sie gibt uns letzendlich eine und wir fahren Heim und C. sagt, ich war die schönste Frau in der Saunawelt. Danach schaue ich in den Spiegel und denke gar nicht an den Krater in der linken Brust.

Montag, 17. November 2014

Hand


Ich habe gar nicht gemerkt, dass er die Hand auf meinen Rücken gelegt hatte. Auf diesem Foto sah ich nur meinen Kopf, von hinten, wie ein dick eingewickeltes Ei. Nur als ich zum zehnten mal das Bild ansah, bemerkte ich die knochige Hand. Meines Vaters. 

Wir hatten unsere Kämpfe – das würde so in einer Frauenzeitschrift stehen, unter der Rubrik Schicksal/Reportage. Wir hatten sie wirklich. Einmal schmiss ich ihm aus Wut ein Kilo Brot an den Kopf. Verfehlt. Es landete unter der Küchenbank. Ich bereute es schon als das Brot in der Luft war. Dann kroch ich unter den Tisch um es wieder rauszuholen. Mein Vater blieb ruhig und sagte nichts.

Er blieb auch ruhig als ich ihn im September anrief. Von der Seegrube aus einem Sonnenstuhl. Ein Krahvogel saß vor mir auf der kleinen Wand und ich sah ihn an. Ich wollte es ihm nicht sagen, ich dachte, es bricht ihm das Herz. Dann sagte er aber seelenruhig, ohne nur ein bisschen die Stimme zu verändern, dass das ein guter Krebs ist. Ich musste fast lachen. Er sagte, auch deine Stiefmutter hat eine Freundin, die wieder gesund geworden ist. Und die war viel älter. Dann aber erzählte ich, dass ich schon ein OP-Termin habe und gerade in den Bergen bin und einen Krahvogel anschaue und er meinte Kopf hoch, das wird schon wieder und ich hängte auf.
Es war unwahrscheinlich, dass neben mir die Frau ein ganz kleines Baby an ihre Brust gewickelt hatte und ich den Krebs. Es war auch unwahrscheinlich, dass Menschen Bier getrunken haben und sie C. fragten ob er ein Foto von ihnen machen könnte. Ich dachte nicht an Fotos, ich dachte daran, dass die Berge im Stubaitail und Italien sehr weit waren und ob man nach dem Tod reisen kann. Vielleicht mit den Wolken, in Zeit und Ort. Und das ich im Arm von C. sterben will, fest eingewickelt wie ein Embrio. Und im Radio soll “Summertimes” von Louis & Ella laufen.

Heute denke ich nicht mehr an den Tod. Ich denke daran, dass das Wochenende geklappt hat. Dass sie alle gekommen sind, um mir zu klatschen. Vier Stunden gereist. Auch wenn mein Vater selbst in Jogginghosen ankam und frischgekochte Kartoffeln im Restaurant verlangte. Weil der Gast ist König. Einer seiner Lieblingssprüche. Und auch wenn wir alle zusammen wie Zigeuner die Buchmesse stürmten. Auch, wenn sie mit ihren Rucksäcken und Jacken viel zu viel Gepäck hatten. Und auch, wenn sie laut stritten, welche Sitze sie reservieren sollten. Auch, wenn sie alle Besucher störten, die sich die vorherige Veranstaltung anhören wollten. Auch, wenn mich die Hand an meinen Rücken, dort bei der Verleihung gestört hat. Im nachhinein finde ich alles, was und wie es passiert ist, wirklich nur toll.

Montag, 10. November 2014

Rhinozeros

Langsam ist meine Krebshülle so, wie  es aus romantischen "in memoriam XY"-Fotoshootings oder amerikanischen Filmen zu sehen ist. Eine Haut, leer wie nasse Plastiktüte, ein Blick, fiebrig und nichtssagend. Jeden Tag schaue ich in den Spiegel, was hat sich verändert, was ist besser geworden, was schlechter, was anders. Auf meinem Kopf ständig eine Mütze, ein Tuch, irgendwas. Sonst fühle ich mich, wie ein rohes Ei.

Gestern musste ich nicht in den Spiegel schauen. Wem gehört das Bein da im Bett. Es ist meins, dünn, kreppig, Rhinzeroshaut, eine Satellitenaufnahme von einem abgetrocknetem Lavastrom. Es könnte auch jemand anderem gehören. Es könnte auch nur ein Bild sein. Ich kann das Bein lange anschauen und der Besitzer tut mir leid. Dann merke ich erst, dass ich mir selbst leid tue.

Obwohl ich so dünn bin, fühle ich mich, wie eine Kuh - überall stehen mir die Knochen heraus. An der Hüfte, den Knien, den Ellbögen. Wenn ich mit meinen Händen über mein Körper streife, erkenne ich mich nicht wieder.
Von heute auf morgen ist das gegangen. Meine Zähne sind viel zu groß. Als ob sie jemand nicht waagerecht, sondern senkrecht in meinen Mund gesteckt hätte. Oder ein falsches Gebiss, von einem Pferd. Es zerrt an der Nase, zieht das ganze Gesicht auseinander.
Aber Leute sagen, ich hatte noch nie so eine tolle Haut. "Pfu", sagte sogar eine Freundin und wedelte mit ihrer Hand, wie wenn sie etwas ganz heißes angefasst hätte. "Es ist so viel besser', meinte sie anerkennend, weil sie mich noch mit dem Aknefeld gesehen hatte. Und ich falle zwischendurch einfach auseinander.

Jetzt fängt's langsam an. Der Neid über andere. Über ihre Stärke, über ihre Haare, über ihr Lachen, über ihr Appetit. Ich versuche daran zu denken, dass nur noch vier Behandlungen kommen und mein Bild setzt sich auch wieder zusammen.

Als ich die vier Tage gefastet hatte, habe ich ständig Bilder von Essen angeschaut. Habe an Salat gerochen, an Kaffeebohnen und daran gedacht, wenn es mir besser geht, werde ich alles kochen. Und jetzt fühle ich mich unglaublich alt. Sechzig Jahre versetzt. Nichtsbewirkend. Unstark.
So muss es sein, in einem Altersheim, in dem Magazine liegen, der Tag vor sich hertrieft und man sich einen Schweinebraten mit Rotkraut und Apfel wünscht. Aber einen richtig guten, langgeschmort, mit super Kraut und Äpfeln und Semmelknödel. Und selbst kann man ihn einfach nicht mehr machen, weil sich die Hände nicht bewegen, die Füße, die Finger. Jeden einzelnen Schritt hat man im Kopf: Vom Karottenschneiden bis zum Ofen einschalten, sogar den Geruch von gebratenen Fleisch in der Nase. Und am Ende liegt man dann im Bett mit offenen Augen und sieht in eine Ecke, wo eine Spinne sich gerade vom Heizungsschalter langsam abseilt und alles egal ist.

Donnerstag, 30. Oktober 2014

Das letzte Mal

"Damit du das letzte Mal deine Haare mit deinem Lieblingsshampoo waschen kannst" – C. in der Tür mit einem Shampoo das nach frischgepresstem Apfelsaft riecht. Stimmt, das ist mein Lieblingsshampoo, aber nur seit kurzem, weil ich es erst vor einem Monat entdeckt habe.

Es sind nur Haare. Für mich sind es nur Haare. C. bekommt Tränen als er den Zopf in der Hand hält. Er will ihn nicht abschneiden, aber sie fangen schon an rauszufallen und ich will nicht Haare in jedem Körperwinkel kleben haben. Ich stelle schnell noch den Kartoffelauflauf in den Ofen, bereite einen Grüntee und laufe duschen.

Erst die Schamhaare fingen an auszufallen. Auch beim duschen. Je länger ich unter Wasser war, desdo mehr. Eklig. Komisch. Jetzt fließen sie in den Kanal. Vielleicht verstopfen sie irgendwann die Rohre. Danach habe ich mich nicht getraut mir die Haare am Kopf anzufassen, meinen Zopf zu öffnen, mich zu kratzen oder zu kämmen. Die Paar langen, herausgefallenen Haare klebten fest unter meinen Fingernägeln und kitzelten meinen Nacken.

© *Clam*/pixelio.de
Also ich sitze im Badezimmer und will es dramatisch machen. Ich denke an Prokofiev oder Rachmaninov als Hintergrundmusik. C. empfiehlt Carmina Burana von Carl Orff. Ich bin dabei, ziehe ein weißes Hemd aus dem Wäschekübel, setze mich auf den Stuhl und will das meine Haare mit dem Rasierapparat einfach abfallen. Wie die Blätter vom Baum bei Föhn. Passt eigentlich eh zum Herbst, bin nun ein Teil der Natur. C. setzt den Helm auf, die Kamera schaltet ein. "Bist du sicher? Willst du nicht noch ein Paar Tage warten?" Nein, sicher. Ich weiß, er sagt es, weil die Pickel noch immer mein Gesicht verunstalten und er bangt, dass es mir dann noch schlimmer geht. Aber wie gesagt, Haare sind mir egal. Die tun nicht weh, die explodieren nicht ständig, die sind zahm. Ohnehin hängt am Spiegel ein Küchentuch um mich nicht ständig selbst zu erschrecken. Mein Gesicht ist zwar viel entspannter geworden, die Pickel deformieren nicht mehr mein ganzes Antlitz, aber schön ist was anderes.  Ich gehe noch immer nicht außer Haus.

Er schaltet Carmina Burana ein, dann die Haarschneidemaschine. Es passiert nichts, die Maschine sümmt sehr leise und ich schaue nach hinten, was ist los. Sie ist einfach kaputt, es bleibt nur die Schere. C. greift meinen Schopf, so viele Haare wie möglich zusammen und schneidet. Er schneidet sie durch, hält sie so, wie ein Huhn, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. "Nicht ziehen", kreische ich. "Entschuldigung", seine Stimme ist ganz sanft. Auf einmal spüre ich, dass mein Kopf viel leichter geworden ist. "Freedom" fällt mir ein, auf Englisch. Warum gerade auf Englisch. Carmina Burana geht langsam zu Ende. Es ist ein fünfminütiger Track auf Youtube. Schade. Ich schaue mich im Spiegel an und muss lachen, dann lachen wir zu zweit und er schneidet mir die Haare noch ein bisschen. Die langen, abgeschnittenen Haare hält C. mit einem rosa Haargummi zusammen und hängt ihn an den Spiegel. Das Haar sieht aus, wie ein Skalp und ich wie Jean d'Arc, nachdem sie die Pocken hatte. Ich dusche mich noch einmal und esse danach den Kartoffelauflauf. Zwischen den dünngeschnittenen Kartoffelscheiben, sehe ich auf einmal etwas braunes, dünnes, langes. Ich nehme es zwischen zwei Finger und fange an zu ziehen – mein Haar, "das gestern auf meinem Kopf heute Skalp"-Haar mit Schlagobers und Parmesan. Es macht mich nachdenklich, denn ich finde wirklich selten mein eigenes Haar im Essen. Sowas hat mich nie geekelt, aber jetzt schon. Als ob es ein gemeiner Spaß vom Schicksal wäre. Ich schmeiße das Haar, samt Parmesan in den Müll. Das letzte Mal, für lange Zeit.

Sonntag, 26. Oktober 2014

Drei Tage

Ich verstehe auch andere Dinge nicht und rege mich nicht auf, weil ich sie nicht verstehe. Warum würde ich jetzt eine Ausnahme machen? Es ist nur etwas mehr, dass ich nicht verstehe und das ich nicht beeinflussen kann. Obwohl, über letzteres, bzw. das Gegenteil, versuchen mich Freunde, Bekannte und Familie zu überzeugen. Und ich lebe mein Leben weiter, wie bisher. Einen Film, der mit anderen passiert und nicht mit mir.

   
Die Entdeckung- Tag 1    
Copyright: Heike/pixelio.de
Die Geschichte fängt mit einem Kratzer an. Jetzt im September, wo es einmal heiß war habe ich mich unter der Achsel gekratzt, währenddessen ich mit einem Kollegen diskutierte. Und hopp, diskutierte mein Kollege plötzlich alleine. Denn ich fühlte etwas rundes und hartes in meiner Brust und es überkam mich eine sofortige Todesangst und ich brauchte einige Minuten um mich zu fassen. Ich hatte das Gefühl in dieser Angst ist auf einmal all mein Blut in mein Gehirn und mein Herz geschoßen und fühlte eine Urpanik, wie ich sie fühle, wenn ich an das Weltall denke oder mir Sterne zu lange ansehe. Fünf Minuten später half meine Atemübung und ich konnte wieder zuhören. Mein Gesprächspartner überbrückte die Debatte alleine und bemerkte von meinem Schwächeanfall überhaupt nichts. Soviel über die zwischenmenschliche Kommunikation.

Die Medien haben mich gut trainiert. Man sollte sofort zum Arzt gehen, wenn man etwas komisches in der Brust spürt. Ich bin 27 und im Internet fand ich gleich eine beruhigende Antwort auf den Knoten: Verklumptes Fettgewebe. Unter dreißig ist Brustkrebs sehr selten. Auch meine Freunde beruhigten mich. Ich ging zur Hausärztin, da mein Frauenarzt zu der Zeit gerade auf Urlaub war, ob sie glaubt, dass das ein Knoten ist oder ich mir das nur einbilde.
Sie wärmte ihre Handflächen auf indem sie sie zueinander rieb und schaute links hinter mein Ohr, während sie mir die Brust abtastete. Sie hatte eine weiche Hand. Man sah in ihrem Gesicht nichts. Aber sie schickte mich zur Brustambulanz, denn da war wirklich ein Knoten.Und zwar sofort nächsten Tag sollte ich gehen.



Die Untersuchung - Tag 2
Ich war mittlerweile schon komplett beruhigt. Statistiken, Freunde, alles schien auf meiner Seite zu stehen. Ich sagte das ganze mit dem Knoten eigentlich nur zwei Freunde. Das half auch. Dann fragten nicht so viele, wie es mir denn ging. Die Einweisung auf die Brustambulanz nahm ich, wie eine Überreaktion, eine Art Sicherstellung, dass alles in Ordnung ist.

Der Radiologe, ein kleiner Mann die ärztliche Version von Homer Simpson im weißen Kittel, war barsch. Ich musste ausgezogen in einem blauen Kittel warten, dann nur in Strumpfhose mit dem linken arm über meinem Kopf in einem winzigen, halbverdunkelten Raum mit einer Ultraschallmaschine zusammen liegen. Dann kam endlich Homer und hatte eine kalte Hand. Er schmierte dieses komische Gel auf meine linke Brust und fuhr mit dem Ultraschallkopf hin und her. Drückte den Knoten auf die eine Seite, auf die andere Seite und dann fest hinein. Er brabbelte verstörend. Es nervte mich unglaublich. Gesagt hat er dann nur: "Wischen sie sich ab, wir werden eine Biopsie nehmen um ganz sicher zu stellen, dass der Knoten gutartig ist." Gut. Kittel an. Ich wieder am Flur sitzend. Komisch. Sie machen nicht einmal eine Mammographie, fragte ich mich. Obwohl mir die Hausärztin alles gut erklärt hatte, damit ich mich nicht wundere, wie es so in der Brustambulanz abläuft.

"Frau Cz. kommen sie, bitte" - nach 15 Minuten kam die nette, blonde Krankenschwester lächelnd in den Warteraum. Jetzt ging ich in einen helleren Raum, aber liegen musste ich gleich. Linker Arm ganz weit nach oben. Kissen unter meinen Rücken, auf der Seite liegen, mit nacktem Oberkörper. Der Arzt ließ wieder auf sich warten. 10 Minuten lag ich so, fror und sah die Neonröhren an der Decke an. Ich redete mir ein, das alles passiert außerhalb meines Körpers. Mir kam beinahe vor, ich könnte mich von außen sehen. Komisch.

Endlich kam der Arzt, mit einer Stanze, die mich an gefüllte Puten erinnert. Mit einer solchen langen Stanze stecht man sie durch um sie von vorne bis hinten zusammen zu halten. Auch die Methode war ähnlich. Nach einer Betäubungsspritze und dem Ultraschallkopf in einer Tüte an meiner Brust kam die Stanze hinein. Der Arzt suchte den Knoten. Ich sah ihn auf dem Bildschirm. Wie eine zermatschte Bohne sah er aus. Sechsmal stach er mit der Stanze in meine Brust. Nur am Ende sah ich, wieviel ich geblutet hatte und wie lange die Stanze in Wirklichkeit war. Ich fand es interessant. Dann sagte mir die Krankenschwester, während sie meine Wunde zuband, dass ich morgen zur Befundbesprechung mit jemandem kommen sollte, den ich gerne hab. Bingo, sagte ich, denn wir hatten mit meinem langjährigen Freund besprochen, dass wir eine Pause machen, um zu sehen in welche Richtung unsere Beziehung gehen wird. Fünf Jahre miteinander durch dick und dünn und seit einer Woche kein Kontakt mehr. Bedenkzeit. Ich glaubte langsam auf den Geschmack zu kommen, was ich in Wirklichkeit will. Und dann sagt mir die Krankenschwester das was sie sagt und der einzige Mensch, den ich in diesem Moment neben mir haben will, ist er. Die Krankenschwester sagte: Sie haben doch sicher einen Freund, eine Freundin, die Mutter, die Schwester, jemand der sie begleiten kann. Ich sah in die Neonröhre und eine Träne rollte mir auf der rechten Wange hinunter. Ich fühlte mich unglaublich verlassen.

Ich rufe ihn an, er hebt nicht ab. Wir haben besprochen, dass wir nicht miteinander sprechen. Ich schreibe ihm eine SMS und am Abend sitzt er bei mir in der Küche und alles ist ein bisschen komisch, aber ich bin sehr froh und dankbar, dass er bei mir ist.

Der Befund - Tag 3
Ich gehe ganz normal in die Arbeit und versuche den Arzttermin zwischen zwei andere Termine zu quetschen. Es ist perfekt, denn ich mache ein Interview in der Innenstadt und danach kann ich schnell ins Krankenhaus laufen, bevor ich wieder ins Büro zurück muss.

Vor der Klinik wartet schon mein Freund um 2 Uhr auf mich. Er sieht aufgeregter aus, als ich. Ich bin mir sicher alles passt mit den Befunden. Bei mir passt immer alles. Egal ob Blut oder Harn - das Labor sagt immer, alles ist perfekt. Und ich fühle mich fitter und glücklicher denn je. Weil ich die Dinge geklärt habe, weil ich mit meiner Familie, mit meinem Freund viele Gespräche über unsere Beziehungen miteinander geführt habe und ich alles sagen konnte, was mich belastete. Nüchtern und schön. Und manchmal auch schreiend und weinend. Aber letzen Endes immer nüchtern und schön und liebevoll.
Homer Simpson in Weiß huscht an uns vorbei. Er sieht immer nervös aus. Kann ich sagen, da ich ihn jetzt schon den zweiten Tag sehe. "Ganz gleich", sagt er - eher zur automatischen Tür, die ihn schluckt, als zu uns.

Dann sitzen wir in einem kleinen Raum ohne Fenster. Ein Kalender von Knorr hängt an der Wand. Kartoffelauflauf im September. Das Licht ist kalt. Neon. Wieder warten auf den Radiologen. Er kommt rein, Grüß Gott, setzt sich vor den Computer, zieht die Brille aus und dreht sich zu uns. Ich muss ihnen leider sagen, dass der Tumor bösartig ist. Punkt. Kein Kommentar. Ich sehe ihn an, ich sehe meinen Freund an. Er hat Tränen in den Augen. Auf einmal bekomme ich keine Luft. Warum ist in diesem scheiß Raum kein Fenster? Und? Frage ich? Sterbe ich gleich, kann ich gesund werden, sind sie sich sicher, ich fühle mich doch sooooo gesund. Sie sehen wie das blühende Leben aus, aber auch dann kann man Krebs haben. Sagt der Arzt. Ich will noch so vieles machen, sage ich. Denn ich denke daran, jetzt bin gleich tot, mein Roman ist nie fertiggeworden, ich war nie wirklich in Rom (habe zwei Tage vorher "La grande Bellezza" gesehen) und habe noch keine Kinder bekommen. Und ich wollte doch immer eine Oma werden. Ich beuge mich auf meine Knie. Vielleicht ist dort mehr Luft, ich komme wieder zurück und greife mir in die Haare. Der weiße Homer sitzt unbeeinflusst dort. Erklärt. Sie gehen jetzt in den zweiten Stock, blablabla. Mein Freund fließen die Tränen, ich weine nicht. Es ist einfach nur unfassbar. Dann kommt eine Krankenschwester, die uns zur Blutabnahme begleitet. Die andere Krankenschwester saugt Blut aus mir, ich werde angezapft, denke ich. Ich werde sterben und fange an zu weinen. Die Krankenschwester schaut mich überrascht an. Schlechte Nachrichten? Ich nicke und weine und lächele. Warum will ich immer tapfer bleiben? Wann hat man mir das beigebracht? Warum einfach nicht mal wütend sein und weinen? Wann, wenn nicht jetzt? Aber ich bleibe tapfer und meine Tränen laufen in mein Lächeln hinein. Mein Mund schmeckt gleichzeitig salzig und süß und trocken. Bestimmt ist es wegen den vielen Indianergeschichten, wegen Lederstrumpf, weil ich immer ein Indianer sein wollte. Flink, stark, mutig, unzerstörbar.

Der zweite Arzt war hübsch. Zum Glück war er auch nett und verständnisvoll. Er hat Augen, wie ich. Außen grün, Innen braun. Er schaute mir nicht nur ins Gesicht, er sah auch meine Angst. Er beruhigte mich. Der Knoten ist klein, sie sind jung, ihre Heilungschancen sind sehr gut. Und schon machte einen Termin. Ist ihnen der 16. September recht? Ich hatte das Gefühl, überrumpelt zu sein. Sicher, ist es mir recht. Mir ist alles recht. Gestern hatte ich noch kein Krebs. Und als ich das dachte, wusste ich das es nicht stimmte und ich doch recht hatte.