Mittwoch, 4. November 2015

Härchen

Es ist schon fast alles beim alten. Nur ist es komisch in den Spiegel zu schauen und kaum Augenbrauen zu sehen. Noch immer nicht. Einen Stift zu nehmen und mir einen zu malen, wie es doch so viele tun, ist mir fremd. Manchmal mache ich es trotzdem, denn ich glaube, dadurch werde ich mich wieder Ganz fühlen. Restauration, sozusagen. Dann vergesse ich aber tagsüber, dass ich mir Augenbrauen gemalt habe und wenn ich mein Gesicht reibe - was ich anscheinend ständig tue - reibe ich meine Augenbrauen halb ab oder verschmiere sie auf meiner Stirn. Ein lächerliches Problem und trotzdem. Diese Augenbrauen stehen nicht nur für Haare, die einem über den Augen wachsen, sondern für meine Identität. Sie bedeuten die Zeit mit meinen Freunden, das viele Lachen, die Capuccinos und Caffe Lattes, sogar die Kotzerei, die am Ende der tollsten Parties folgte und sie sind die Küsse, die ich vergessen habe zu küssen und die anderen Küsse, die ich überflüssigerweise geküsst habe und die Brücken, die Stadtteile aneinander haftete und auch sind sie alles, was mit Unbeschwertheit und Unsterblichkeit zu tun hatte. Und ich habe sie auch noch gezupft! Das würde ich heute nicht mehr tun...

Die Augenbrauen, die meine Studienkollegin immer beneidete. Die mir jeden Tag, wenn wir uns an der Uni getroffen haben, sagte, dass ich die tollsten Augenbrauen habe und meine Tante, die es ebenfalls bei allen unseren Begegnungen bemerkte. Und für mich war es damals natürlich und ein blöder stolz kam in meinem Bauch hoch, aber zwei Sekunden später habe ich es schon vergessen. Heute fallen sie mir jeden Tag ein. Jeden Tag, in der Früh im Spiegel schauend, Zähne putzend, sogar wenn ich in der Arbeit auf Klo gehe. Jedesmal schaue ich mich im Neonlicht an, beuge mich nah an den Spiegel heran und zähle die kleinen Haare, die kommen. Ich frage C. jede Woche: Ich habe schon mehr, oder? Und er sieht in mein Gesicht und fährt mit seinem Finger drüber. Ja, doch ,ja - sagt er euphorisch und wir freuen uns gemeinsam über jedes Härchen, dass stärker als die anderen ist, dass schwärzer als die anderen ist und an diesen Härchen halte ich mich fest.

Montag, 17. August 2015

Gurkenglas

Vielleicht ist es, weil ich Essiggurken so gerne esse. Vielleicht ist es, weil ich als Kind so viel Fußball gespielt habe. Vielleicht ist es, weil meine Mutter Salat nach Tschernobyl gegessen hat. Vielleicht ist es, weil ich viel grünen Tee getrunken habe. Oder viel ungarische Salami gegessen. Oder viel Paprika. Oder viel Zwiebel. Manchmal macht es mich verrückt. Wenn jemand erzählt, dass Gurkengläser durchstrahlt werden, vor dem die Essiggurken hineinkommen. Bei allen? Bei allen. Damit keine Rückstände einem die Kehle von Innen zerschneiden: Nur so sieht man die kleinen Glassplitter. Manchmal ist die Strahlung zu hoch. Es piepst laut. Scheiße – bis man es bemerkt, sind dreihundert Gurkengläser schon am Markt. Ich liebe Essiggurken. Ich esse mindestens fünf Kilo pro Jahr. Ich will nicht daran denken, dass die Essiggurken daran schuld sein könnten, dass ich Krebs hatte. Oder meine Mutter, weil sie 1986 grünen Salat zu den Käsenockerln gegessen hat und mit mir schwanger war. Oder dass einer dieser wilden Jungs schuld ist, der mir den Fußball in die Brust geschossen hat. Ich habe keine Luft bekommen, so heftig war der Schuss. Heute bekomme ich keine Luft, wenn ich an den Krebs denke. Er ist außerirdisch, weil ich nicht weiß, wo und was ich ändern könnte, damit er nicht zurückkommt. Und ich weiß nicht, wo er wohnt und wo er sich wohlfühlt – damit ich ihm es so ungemütlich, wie möglich in mir machen könnte. Sollte ich keine Essiggurken mehr aus dem Geschäft essen? Oder keine Pilze aus dem Wald? Oder keine Fische aus dem Mittelmeer? Ich habe das Gefühl, ich habe mit der Diagnose meine Unsterblichkeit verloren. Mit der ich jedoch noch mindesten sechzig Jahre gezählt hatte.

Donnerstag, 9. Juli 2015

Abschiedsbrief

Lieber Krebs, ich habe mir gedacht, nun ist es an der Zeit von einander Abschied zu nehmen. Du hast mich begleitet, ob ich wollte oder nicht. Du warst mein saurer Regen, mein Bürgerkrieg im eigenen Körper, mein Sandkorn im Werk. Es ist höchste Eisenbahn, dass ich dich verabschiede. Mit dem, dass du jetzt für immer zu meiner Geschichte gehörst, habe ich mich – so glaube ich es – abgefunden. Dass du für immer in meiner Chronik stehst, unter September 2014. Obwohl du dich ja anfangs gar nicht bemerkbar gemacht hast. Schön langsam bist du in mein Wasser hineingeflossen. Wie Himbeersirup im Glas, das sich schön langsam auflöst und erst nur eine rote Wolke im Wasser ist und im nächsten Moment färbt er alles ein. So bist du für mich gewesen. Erst kam die OP, dann die Chemo, dann die Bestrahlung. Plötzlich ging alles nur mehr um dich, 1,5 Zentimeter Stück schlechtes Fleisch. Falsches Fleisch, dass mich von innen nagte.

Die Hormontherapie läuft noch immer, wie auch die Antikörpertherapie. Aber langsam habe ich das Glas leer getrunken und das nächste werde ich mir selbst nachfüllen. Und kein Himbeersirup mehr, danke. Nein, etwas erfrischendes. Etwas mit Zitrone und Minze. Nur weiß ich nicht, was mir Minze und Zitrone bringen wird. Ich will von dir Abschied nehmen, das weiß ich. Aber ich habe auch Angst. Wie vor einem Stalker, der zurückkehren könnte. Ich fühle, in mir ist ein Tor, zugesperrt, zu dem ich den Schlüssel verloren habe. Der Schlüssel zur vorübergehenden Unsterblichkeit. Oder wenigsten zum Gedanlen daran. Meine Tage sind langweilig, ich habe das Gefühl mit jedem Tag verliere ich mehr von mir. Von meinen Wünschen, von meinen Träumen. Dass ich jetzt ein Stück näher an den Tod gerückt bin und trotzdem sich nichts geändert hat. Dass ich dem Tod vis a vis saß und er mich anlächelte und Ärzte um uns herumfuchtelten und ich zu den Ärzten und den Tod lächelte und ich nicht wusste, wer die Wahrheit sagte. Wer weiß, was für mich gut ist. Nicht einmal ich. Ich weiß es nicht. Noch immer nicht. Und dabei saß ich vor dem Tod und die Ärzte hielten und halten mich noch immer fest. Ich bin traurig, dass du mir mein 27. Jahr versaut hast. Dass du mir schwitzende Rücken geschenkt hast, einen schlechten Blick, eine schmerzende linke Brust, einen schwellenden Arm und einen Nagel am Zeh, den ich in Wien Westbahnhof verloren habe. Nun habe ich keinen Nagel am linken Fuß und dabei habe ich ihn doch lackiert und mir doch neue Sandalen gekauft. Ja, stell dir vor, neue Sandalen und die will ich wenigstens so lange tragen, wie die alten. Acht Jahre. Ich kaufe mir Sandalen für acht Jahre und du sollst das bitte akzeptieren. Mehr habe ich nicht zu sagen. Am besten du kommst nie wieder zurück. Das wäre mir wirklich am liebsten. Und wenn du den Nagel in Wien Westbahnhof finden würdest, behalte ihn als Andenken an das, was du getan hast.

A.

Dienstag, 26. Mai 2015

Die Münze

Als ich ein Kind war, spielten wir oft Dinge, die uns nicht erlaubt waren: Wir spielten mit den Zügen, den Gleisen, dem Übergang, mit der Schranke. Wir hatten Geld, welches es eigentlich nicht mehr gab. Fillér – das Geld das kleiner war als der Forint und der nach einer Weile so wenig Wert hatte, dass wir Kinder es haben durften und damit spielen und wir hatten eine Menge, große Einmachgläser voller Münzen. Und wir gingen zu den Gleisen und legten die kleinen, leichten Geldstücke auf die langen Eisenstangen und warteten. Und waren aufgeregt, wenn sich die Schranke endlich mit großem Geklimper und mit roter Lampe zusperrte. Wir saßen auf dem Geländer aus Stahl, dass die Fußgänger verlangsamen soll und die Radfahrer vom Sattel zwingen und wir hörten, wie das Eisen vibrierte, wie der Zug plötzlich die Luft wegschob und dann dröhnte alles für einige Sekunden, unsere Haare flogen in die Luft und wir hielten uns fest, damit der Zug uns nicht wegbläst. Immer waren wir überwältigt und saßen einige Sekunden zu lang am Geländer, während die Schranken schon aufgingen und die Autos, die ihre Motoren abstellten, wieder den Motor anzündeten und losrollten.

Oft saßen wir davor sehr lange am Geländer, oft schien die Schranke nutzlos den Weg zu versperren, der Zug war nicht hörbar, nicht sehbar und oft kam uns vor, dass der Zug gar nicht kommt. Aber er kam immer und deswegen harrten wir meistens doch aus. Mit dem Geländer an den Pobacken, hart, ungemütlich, aber er kam immer der Zug und drückte unsere Fillérmünzen platt und die Schranken gingen plänkernd wieder hinauf und die Autos brummten los und es bewegte sich wieder alles und wir suchten die Münzen zwischen den Steinen. Den grauen, nach Eisen riechenden, dreckigen Steinen, zwischen den Gleisen und fast immer haben wir die zerquetschten Münzen gefunden und wir fanden es faszinierend, dass der Zug sie flach machte und deformierte und man trotzdem noch die Zahlen erkannte, die Schrift – nur wurde das ganze, wie eine harte Palatschinke, etwas geboben, wenn wir sie nicht richtig platziert hatten. Manchmal blieben wir stundenlang an der Schranke und spielten dieses Spiel, bis unsere Taschen schon voll waren und uns plötzlich langweilig und hungrig wurde und wir wieder in die Häuser gingen, in denen es viele Wohnungen gab und jeder von uns hinter einer dieser braunen Holztüren am Flur wohnte. Die Münzen, die deformierten vergaßen wir im selben Moment in dem wir unsere Kleider auszogen und in das Badewasser tauchten. Mit Schaum uns zudeckten und wir spielten, wir seien der Nikolaus und machten uns einen weißen Bart.

Warum ich das jetzt erzählt habe? Ich bin so eine Münze. Der Krebs ist über mich gefahren und obwohl meine Züge noch erkennbar sind, der Abdruck bleibt in meinem Gesicht. Es bleiben die Falten, das weiße Haar, die deformierte Brust. Ich habe Angst davor, dass ich nicht mehr werde, wie ich davor war.

Mittwoch, 15. April 2015

Marathon

Vor einigen Tagen hat es also angefangen. Der Klinik-Marathon in der Bestrahlungsabteilung. Sechs Wochen "Solarium" für die linke Brust, jeden Tag um acht Uhr in der "Linac 1". Ich weiß gar nicht, was Linac bedeutet. Aber in der Strahlenabteilung gibt es davon fünf. Oft mache ich mir Gedanken, wie sich wohl mein Körper verändern wird und das ich eigentlich nichts machen kann. Dass er sich nicht wegen seines Alters verändert, sondern wegen diversen Vorsichtsmaßnahmen. Dass ich jetzt wie ein Maori angemalt bin und ein blaues Rechteck mit wasserfestem Edding um meine Brust habe, ist eine Sache. Was innerhalb des Vierecks und den quer über meinen Körper gemalten roten Linien in diesen sechs Wochen passiert, das ist eine andere. Erst Vorgestern ist es mir bewusst geworden: Meine Brust ist nach dieser Behandlung nur noch ein Ausstellungsstück. Alles was hinter der Haut und Brustwarze ist, ist dann Pampa, verbrannt, ausgetrocknet, wie in einem Armageddon. Heute tut sie ein bisschen weh - als ob ich zu lange an der Sonne gewesen wäre. Aus meinem Dekollete kommen die Striche heraus. Ich muss sehr komisch aussehen. Mit meinem Baby-Monchichi-Kurz-Haar und dieser "Malerei".
Ich versuche daran zu denken, dass das gut ist. Dass meine Brust nur noch Deko sein wird, keine Milch produziert und überhaupt nichts macht, was es machen sollte, aber dafür auch keine Krebszellen produzieren kann. Es ist aber irgendwie schwierig anzunehmen, dass ich vor einem Jahr noch jung war und stark und gesund und nun etwas an mir nicht mehr stark und gesund sein wird. Und wenn ich einmal schwanger werde, lächerlich aussehen könnte. Weil die eine Brust anwächst und die andere nicht. Blöde Ängste im Vergleich zu dem, was ich gewinnen könnte: Gesundheit auf Dauer.
Mein Marathon ist noch immer nicht zu Ende. Seit Oktober laufe ich, laufe und laufe. Neben Schnee und Wind vorbei, auf Straßen mit und ohne Asphalt, neben Flüßen und Bergen und Blumen und Wiesen und blauen Himmel und weiße Sterne und mein Lauf wird langsamer, Tag zu Tag mühsamer und ich will endlich ankommen, dort an diesen Ort, an dem ich wieder jung und stark und gesund sein kann. Und dabei laufen einige Leute mit mir mit. Ein Stück, schauen mich an, lächeln, bedauern, bewundern, klatschen, lachen, sehen, hören, halten wieder an. Aber wenn ich ehrlich sein will, sehe ich euch nicht, weil ich eigentlich ständig alleine laufe.

Dienstag, 31. März 2015

Stürmisch, aber Frühling

Stürmisch, aber Frühling (©Steve_F (wikimedia_commons))
Das kann mir keiner mehr wegnehmen: Der Frühling ist da. Draußen in der Natur, auf den Bergen, in den Gärten und auf meiner Haut, auf dem Kopf in den Augen, sogar an den Beinen. Es sprießt wieder. Es kommt wieder und noch nie habe ich mich über kleine Härchen hier und dort gefreut, wie zu dieser Zeit. Obwohl es jetzt im Fenster aussieht, die Welt würde wegen dem aktuellen Sturm untergehen, zwitschern irgendwelche Vögel am Parkplatz und pfeifen aufs Wetter. Und ich mit ihnen.

Ich bin heute auch beim Bodypainting gewesen. Zwei Krankenschwestern haben mich angemalt, mit roten Stiften und es hat gekitzelt. Also habe ich gekichert. Obwohl ich halbnackt in einer Röhre unter Neonlicht lag, habe ich gekichert. (Übrigens juhuu, die gentests* sind negativ geworden). Jetzt kommen sechs Wochen Bestrahlung, mit Startschuss 14. April. Das ist ein bisschen nervig. Das sie mir keinen früheren Termin geben können. Es nervt, weil ich jetzt zwei Wochen echt auf meine Linien aufpassen muss. Auf die Linien, die roten, die mir die kleinen, blauen Krankenschwestern kreuz und quer über die Brüste gemalt haben. Diese Linien muss man behalten, sie hüten und wenn sie verschwinden wollen, muss man ins Krankenhaus laufen, damit sie wieder nachgezeichnet werden. Bitte, kommen sie auf alle Fälle. Hat der Arzt gesagt, der mich an meinen Schwager erinnert. Blasse Haut, Brille, weißer Kittel, warme Hände, groß. Er spricht sehr langsam. Als ob er jedes Wort noch einmal überlegen müsste, bevor er sie wirklich sagt. Als ob es ihm überhaupt nich auffallen würde, dass er zu langsam redet. Vor allem, wenn man halbnackt ist, im Neonlicht steht, mit der Hand auf der Klinke um sich in der Umkleide wieder anzuziehen. Dann spricht er definitiv viel zu langsam. Nicht nur dass man dabei friert, auch fällt einem ein, dass man – obwohl man eine Glatze hat und mit einem Stift angemalt wurde – noch immer eine Frau ist und vor einem Mann steht der angezogen ist und sich noch paar Mal überlegt, ob er mir den Termin sagen soll oder nicht. Dann habe ich ein bisschen gewartet, mich aber letzendlich angezogen und mir im Flur den Termin geben lassen, mit dem ich danach in den Sturm hinausspaziert bin. Es ist stürmisch auch bei mir. Aber Frühling. Und das gehört nun wirklich-wirklich mir, mit ihren zwitschernden Vögeln, den Knospen in den Parks und den langen Tagen.

* zum gentest in kürze: Zwei Monate habe ich auf die Gentests warten müssen. Gentests um zu zeigen ob ich eine Genmutation habe, die für den Brustkrebs verantwortlich gemacht werden kann, oder nicht. Das ist nicht obligatorisch, man kann es machen oder auch nicht. Die Genmutationen, die sie bei so jungen Frauen testen, heißen BRCA1 und BRCA2, bzw. Chek2. Wenn diese positiv sind, hat man ein erhöhtes Brustkrebsrisiko, dann wird empfohlen die Brüste präventiv zu amputieren. Und das ist noch die harmlosere Genmutation! Die andere Genmutation trägt den Namen TP53 – wenn dieser im Genpool präsent ist, bedeutet das eine 100 prozentige Krebserkrankung – und zwar kann das überall im Körper auftreten. Dazu kann man präventiv keine Behandlungen durchführen. Also in beiden Fällen, heißt das für mich AUFATMEN – ich habe Brustkrebs nicht vererbt bekommen und kann es auch nicht weitervererben. Juhuhuuuuuu!

Dienstag, 10. März 2015

Normal

Ich bin wieder fast normal. Wenigstens mag ich das über mich glauben. Es ist normal, dass mir die Haare wachsen. Es ist normal, dass meine Nägel wachsen. Es ist normal, dass mein Augenbrauen schwärzer werden. Und doch ist es total außergewöhnlich. Und viel zu langsam. Meine Haare sind ein Dreitagesbart. Meine Nägel wachsen nicht schnell genug um die Hand wieder richtig benutzen zu können. Und obwohl die Augenbrauen schwärzer sind, sind nach der letzten Chemo meine Wimpern ausgefallen. Ich kann meine Wimpern nun zählen, wenn ich wollte. Aber ich traue mich gar nicht.

Letztens saß mir eine Frau gegenüber. Auf ihrem Schoß ein Kind mit blondem Haar, so um die drei Jahre alt. Das Kind sah ernst aus und es schien mir, sie seien irgendwie miteinander verbunden. Nicht nur, wie Mutter und Kind, sondern viel tiefer, ohne Gezanke, ohne Hysterie für Bonbons oder Schokolade oder Ruhigsitzenbleiben - wie das sonst so ist im Bus zwischen Müttern und Kindern. Die Frau war dünn und wie die Sonne so in ihr Gesicht schien, dachte ich mir, sie ist eine Russin, weil sie so dünn ist und weiß und ihre Wimpern so durchsichtig. Es stimmte, sie war Russin, sie sprach mit ihrem Kind, erklärte ihr etwas und das Kind sah mit blauen Augen auf ihre Jacke, an dem ein kleiner Recco-Aufkleber war und spielte damit. Dann zog die Mutter ihre Mütze aus und wir sahen uns in die Augen. Sie hatte auch einen Dreitagesbart am Kopf und ich erwartete mir irgendeine Geste von der Mutter, ein Lächeln, ein Zwinkern, ein "Ichverstehdichgut", aber sie sah wieder aus dem Fenster und erklärte weiter als ob sie nicht bemerkt hätte, dass ich die Gleiche Mütze habe, nur in einer anderen Farbe. Die Chemomütze, bequemer Schnitt, eine Mischung aus Baumwolle und Stretch, nur ich traute sie mir nicht auszuziehen. Nicht im Bus, in vollem Sonnenschein, ohne Wimpern.

Manchmal stört es mich sehr, dass ich wegen den tränenden Augen und fehlenden Wimpern kein Unterschied zwischen einem Alltagsgesicht und einem festlichen Gesicht machen kann. Dass meine Augen so klein geworden sind, dass ich einen Eyeliner gekauft habe, obwohl ich ihn nicht benutzen kann. Weil ich nie in meinem Leben es wirklich konnte. Mir einen Lidstrich auf die Augen zu malen. Nun habe ich es dreimal an drei unterschiedlichen Tagen versucht und jedesmal wieder abgewaschen, weil es aussah als ob mich jemand ins Gesicht geschlagen hätte. Danach versuchte ich mit dem einzigen Lippenstift, den ich gefunden hatte hübsch zu machen. Aber die Farbe - eine Mischung aus Braun und Rot - stand überhaupt nicht. Ich sah aus, wie eine Leiche. Dann probierte ich es mit Ohrringen. Sofort entzündete sich mein Ohr. Dann band ich mir ein Tuch statt der ewigen Kombination von Baumwollmütze und Wollmütze um meinen Kopf und endlich, endlich, endlich empfand ich etwas nahe dazu, was ich jeden Tag fühlen möchte: Zufriedenheit mit meinem Spiegelbild. Was hinter meinem Spiegelbild sonst noch abläuft, ist wirklich nicht einfach zu sagen. Ich heule den Mond an in Pyjamas und schmeiße Popcornschalen gegen die Wand, gebe Zettel auf der Humangenetik ab und sitze im Bus und glaube, mich verbindet etwas mit einer dünnen Russin, aber die hat keine Augen, bzw. ihre Augen sind besetzt, für sich und ihr Kind und ich gehe morgen in die Klinik und lasse mir wieder Dinge sagen, von denen ich entweder besser gelaunt werde oder schlechter. Das ist normal.

Samstag, 14. Februar 2015

Liste

Ich habe gerade aufgelegt auf Skype. Mein Vater und meine Stiefmutter sagten durch den Bildschirm, gib nicht auf. Wenn ich schlechtgelaunt bin, wenn mein Arm anschwillt, wenn mein Bein anschwillt und sich die Nägel langsam von den Finger trennen, denke ich mir warum sollte ich nicht aufgeben. Auch jetzt, wo doch das schlimmste eigentlich vorbei ist, könnte ich aufgeben. Jederzeit kann man aufgeben, aber wenn man leben will, sollte man es nicht tun. Ich mag nicht aufgeben. Wenn wieder alles viel zu viel wird, dann bin ich einfach schlecht gelaunt und lasse meine Laune, wie einen wilden Hund auf meine Familie los. Obwohl sie für nichts können. Ich bin unfair mit C., ich werfe ihm Egoismus vor – ein großer Doberman, der aus C. ein Stück herausbeißt, aus seiner Geduld, aus seiner Liebe, dann bin ich unfair mit meinem Vater und werfe ihm Dinge an den Kopf, die ich nicht einmal überlegt habe, die mir zwischen den Zähnen hervorspringen und ihn am Nacken beißen, damit es auch ihm wehtut. Oder ich weiß nicht, warum ich es tue.

Heute bin ich zu meinem Leseplatz gegangen, oberhalb der Klamm – auf der grünen Bank im Wald scheint die Sonne am Längsten. Ich saß dort und sah auf Völs, auf Kranebitten, auf den Inn, auf die Lizum, auf den Himmel und dachte mir, was für ein herrlicher Tag und dann ging alles schief. Ein Paar Bemerkungen, ein Paar schlechte Gedanken, ein hängengebliebener Nagel oder eine kalte Brise – mich macht im Moment ganz viel und ganz schnell schlechtgelaunt. Dazu, dass ich wegen der Schwellungen meinen Arm kaum biegen kann und jetzt habe ich bemerkt, auch mein linkes Bein kann ich kaum bewegen. Auch dieser ist geschwollen. Lymphödem, das Lymphsystem kann nur schlecht arbeiten, das "Wasser" bleibt in den Gelenken hängen und man bekommt "Babyhände", wie gepolstert und unwahrscheinlich rund. Ich denke mir wirklich, wie kann aus einem Menschen auf einmal etwas so komisches werden. Als ob aus wenig auf einmal viel geworden wäre – ich weiß gar nicht, wie das sein kann. Wie der Körper das macht, dass er von einem Moment auf den anderen einfach aufschwillt. So viele Fragen, so wenig tatsächliches Wissen und ich weigere mich das Internet zu recherchieren. Das hat auch seine Gründe.

Ich saß also dort auf der grünen Bank, mit ganz viel Geduld im Bauch und in der Brust und hörte das Radio und hörte einem Mönch zu, der über Dankbarkeit sprach und über seine Jugend in Hitler-Österreich und darüber, dass man aus allem lernen kann. Auch wenn man für eine Krankheit nicht per se dankbar sein kann, kann man dafür dankbar sein, was man daraus lernen kann. Ja, man könnte auch dafür dankbar sein, aber vorher fällt mir noch anderes ein, für was ich dankbar sein möchte.

Hier also eine Dankbarkeits-Liste:
- Ich bin C. dankbar, weil er neben mir steht, obwohl das überhaupt nicht selbstverständlich ist. Er macht mir Abendessen und er kauft ein, er wascht die Teller und bereitet mir eine "Spezialmilch" zum Einschlafen und er zieht mich auf der Rodel den Berg hinauf, wie ein Pferd und er sieht mich mit Augen an, die sagen, dass ich auch aufgeschwollen, mit Glatze und tränenden Augen, eiterigen Fingernägeln und tropfender Nase, die schönste Frau auf Erden bin.
- Ich bin meiner Familie dankbar, weil sie mir ungeschönt ihre Meinung sagen, weil ich spüre, dass sie auch aus so viel Entfernung an mich denken, um mich bangen und ihre Zeit und ihr Geld für mich opfern würden, wenn ich sie dafür fragen würde.
- Ich bin meinen Freundinnen und Freunden dankbar, weil sie die Verknüpfung zur Realität sind, mich anrufen, mir schreiben, manche beten, andere denken an mich, sie halten mich am Boden, sind meine Wurzeln. "Viele drücken dir die Daumen" – sagte mein Vater letztens und der Gedanke tut sehr gut.
- Ich bin den vielen unbekannten Menschen dankbar, die für mich Geld gesammelt haben, damit ich auswählen kann, mit welcher alternativen Methode ich wieder gesund werde. Das Gefühl hat mich ein bisschen überrumpelt um ehrlich zu sein und ich weiß gar nicht, was ich mit dem Geld machen soll.
- Ich bin der Sonne dankbar, weil wenn sie scheint, kann ich sogar meine zwei Mützen im Wald sitzend ausziehen, ohne zu frieren, und das ist ein wirklich schönes Gefühl.

Tatsächlich wäre die Dankbarkeits-Liste sehr lang und deswegen höre ich hier auf, weil durch das Schreiben habe ich jetzt das Gefühl bekommen, welches ich gesucht habe: Den Willen geduldig zu sein und noch ein bisschen weiter darauf zu warten, dass die Nägel wieder wachsen, dass die Schwellungen verschwinden und dass mein Leben, mein Körper und meine Welt wieder ganz
normal wird.

Donnerstag, 29. Januar 2015

Statistik

es läuft gut – die chemo in meine adern
Heute ist die letzte Chemo. Ich sitze in diesem super nach hinten, nach vorne und nach unten verstellbarem grauen Kunstledersitz. Eine Mischung aus Bett und Stuhl, gemacht um sich möglichst gemütlich bei der Behandlung zu fühlen. Aber für mich war es beinahe immer ungemütlich. Meine Beine schliefen ein, mein Rücken war komisch gekrümmt und dabei hang ich gleichzeitig an einem Schlauch und den Blutsruckmesser. Nun ist es wirklich so weit: Die ersehnte, letzte Chemo, aber blöderweise habe ich ein ganz schlechtes Gefühl. Wie es nach der Schule war und dem Abitur, wenn man darauf wartet, dass es endlich vorbei ist, dieses jahrelange früh aufstehen, das ständig Notizen schreiben, die Hasuaufgaben, Prüfungen, die strengen oder einfach nur ungerechten Lehrer. Und dann ist es vorbei und man bleibt mit einer Frage allein: Was nun? Wie soll es weitergehen?

Um ehrlich zu sein, habe ich schweineangst. Weil ich glaube, die Chemo hat mich bisher "beschützt" – einfach alles (und noch ein bisschen mehr) zerstört, was mir nicht gut getan hat. Und nun werde ich nicht mehr beschützt und werde wahrscheinlich paranoid werden. Spüren, dass ich wieder einen Knoten habe, obwohl da keiner ist. Gestern habe ich so schlecht geschlafen. Als ob mich mein Körper in der Nacht mit Schweiß erwürgen wollte. Das Bett war so durchtränkt, dass ich alles ausziehen musste und die Decke mit der unteren Seite nach oben drehen, damit ich die Feuchtigkeit weniger spüre. Und dann lag ich da mit offenen Gedanken und konnte nich mehr einschlafen. C. schreckte paar Mal auf und ich streichelte seine hechelnde Brust um ihn im Schlaf zu beruhigen. Meine Augen blieben offen und ich hoffte, dass sie bald zufallen, ich nicht mehr schwitzen werde und nicht darank denken, dass ich nach der Chemo wieder vor Entscheidungen stehen werde: Strahlungstherapie ja oder nein, jahrelande Hormontherapie ja oder nein und alles im Zusammenhang auch noch mit Kinderwunsch ja oder nein. Denn jeder Therapie wirkt sich darauf aus und ich wollte doch Kinder und ich glaube meine Kinder wollten mich auch – denn ich würde eine gute Mutter werden und sie nie im Stich lassen.

Also bin ich beides. Erleichtert und verzweifelt. Es wäre toll zu wissen, was die richtige Entscheidung ist. Was danach kommt. Was mein Körper braucht und was überflüssig ist. Aber das wissen nicht einmal die Ärzte. Die können nur die Statistiken heranziehen und mir dadurch eine Diagnose stellen, einen weiteren Behandlungsweg. Aber ich bin ein bisschen skeptisch, denn Statistiken schienen in dieser Krankheit bisher nicht auf meiner Seite zu stehen. Laut Statistik sollte ich keinen Brustkrebs haben, laut Statistik ist mein "böser-agressiver" Tumor auch einer den nur 20% der Brustkrebspatientinnen haben. Hmm. Da wird einem eben bang ums Herz, wenn man wegen Statistiken irgendeine Entscheidung trifft, man selbst doch aber nur ein kleines Teilchen dieser Zahlen ist und trotzdem alles möglich ist. Was ich aber sicher weiß: Ich mache eine rieisige Party, wenn es schönes Wetter wird. Ich werde mit Freunden feiern, mit Kesselgoulasch, transylvanischem Kürtös Kalacs, gutem Wein, Fernetcola und Apfelsaft mit Sodawasser. Und ich vergesse mal für einen Abend, dass ich Entscheidungen wegen Statistiken treffe und ich einen Kampf führe, den ich nie haben wollte und sich nicht wie ein Kampf anspürt, sondern wie eine lange Grippe.

Freitag, 23. Januar 2015

Mein Körper

badezimmer-stilleben mit glatze
Immer kurz vor der nächsten Chemo geht es wieder einigermaßen, aber seit Weihnachten hat sich das verändert. Die Tränen, die aus irgendeinem unbekannten und unausschöpfbarem Teil meines Körpers kommen, werden nicht weniger. Sie fließen über mein Gesicht in der Früh beim Aufstehen, wenn ich aus dem Haus gehe oder wenn mich jemand von zu nah anspricht. Nicht weil ich traurig bin, sondern weil sich mein Auge so entschieden hat. Es ist eine sehr unangenehme Nebenwirkung und auch höllisch nervig, denn sie fließen, wenn ich nicht schnell genug bin in meinen Kragen hinein und machen alles nass und kalt.

Seit dem ich die Diagnose bekommen habe denke ich öfters nach, wie mein Körper aufgebaut ist. Wie wenig ich eigentlich über mich selbst weiß. Was unter der Haut und zwischen meinen Knochen ist, was eine Zelle ist, wo sich meine Leber befindet, wie meine Lunge aussieht. Und dann fällt mir oft dieses Buch ein, welches wir noch in der Wohnung in Ungarn hatten und welches ich geliebt habe. Es war schon damals, als ich zwölf war, mindestens hundert Jahre alt und stand im Wohnzimmer am Regal. Eigentlich waren es zwei Bücher. Eins über die Frau und eins über den Mann. Vorne war die Anatomie ihrer Körper abgezeichnet. Ich setzte mich an Regentagen vor das Regal auf den roten Teppich und konnte stundenlang diese Zeichnung ansehen. Die Körper waren in unterschiedliche Schichten geteilt, die man hin und herschieben konnte, öffnen und zumachen, wodurch sich Organe finden ließen und wieder zudecken. Der Körper war nicht ganz wahrheitsgetreu, einige Dinge stimmten nicht, das wusste ich, aber es faszinierte mich trotzdem, wieviel in mein Körper hineinpasst. Das Herz, der Darm, Drüsen, Adern. Die Neugier für meinen Körper verschwand und als ich richtig Teenie wurde konzentrierte sich das ganze nur noch auf die Geschlechtsorgane und auf das Äußere – wie ich mich möglichst attraktiv selbstgestalten kann und es Beginn das große Vergessen, was eigentlich unter meiner Haut verborgen steckt.

Nun habe ich eine Glatze. Vieles hat sich verändert seit dem ich zwölf war und jetzt wünsche ich mir das Buch wieder, welches ich seit dem Umzug von der Wohnung in das Haus mit Garten nicht mehr gesehen habe. Ich will wieder die Schichten öffnen, die Organe verschieben und mich in den Körper wieder verlieren, mir bewusst machen wie mein Blut in meinen Adern fließt und alles ein bisschen besser verstehen.
Meine Glatze stört mich meistens nicht. Nur ab und zu. Zum Beispiel wenn ich in an einem verregneten Samstag ins Hallenbad gehe, fühle ich, dass ich nun auch von Außen anders bin. Weil mich Kinder über ihre Schultern anschauen und kichern oder kleine Mädchen in der Dusche verstummen, wenn ich eintrete. Ich habe mir gedacht, dass mich das nicht stören wird und auf einmal fühle ich, dass das nicht stimmt und es mich höllisch stört. Und ich denke mir, so muss sich ein Schwarzer oder eine Schwarze fühlen in einem kleine Dorf in Österreich, wie ich mich jetzt fühle. Alleine, einsam, anders, ausgegrenzt. Ich ging auch bald nach Hause, denn ich passte einfach nicht ins Samstagsbild des Hallenbades: Familien, gesund und schön, mit ihren kleinen und halbgroßen Kindern, die voller Energie ins Becken springen.

Ich bin schon ungeduldig, will meine Haare wieder, meine alten Augenbrauen, meine Wimpern, meine Energie, die seit zwei Chemos drastisch verschwunden ist. Meine Schritte fühlen sich an als ob ich Steine an meinen Schuhen mitschleppen würde. Ich wünsche mir meine alten Finger zurück, statt denen mit den schwarzen Höfen an den Nägeln, die manchmal so wehtun können, dass der Schmerz bis zu den Knieen hinaufkriecht, Meinen alten Arm will ich zurücck, statt diesen linkischen, der anschwillt wie ein Luftballon und sich nicht strecken lässt, als ob er auf mich beleidigt wäre. Aber jetzt ist es gleich vorbei und ich muss nicht mehr lange warten und denke mit Freude an die nächste Chemo und singe laut ein Lied im Badezimmer: "Chemo, letzte Chemo" mit der Melodie von "Cheek to cheek".

Dienstag, 13. Januar 2015

Ein Tag weniger

Meine Tage sind langweilig und niemand kann mir die lange Weile abnehmen. Die Stunden spuren wie Schnecken vor sich hin. Jedesmal versuche ich die Zeit dabei zu erwischen, dass sie schneller geht. Tut sie aber nicht. Sie sitzt in den Ecken, knabbert am Staub, fließt in den Rohren des Kühlschrankes, hört sich wie ein startendes Flugzeug an, dass viel zu langsam rennt und deswegen nicht abheben wird. Ich schaue Serien auf Netflix. Orange is the new black. Auf Englisch. Ich verstehe kaum was. Schaue aber stundenlang zu, wie weiß die Zähne von "Piper" sind oder wie mich "Alex" gleichzeitig an eine alte Freundin und an meine Exstiefmutter erinnert und derweil muss ich nicht nachdenken. Nicht zeigen, wie stark ich bin, wie gut ich das meistere. Ich sitze einfach im Sessel und lasse mich in den Bildschirm ziehen, mich aus meiner Haut fallen, die Hände hängen hinunter, der Fuß ist am Stuhl und ich denke daran, auch dieser Tag muss dann irgendwann zu Ende gehen. Auch in meinem Fenster muss der Abend erscheinen, auch hier wird er kommen und dann ist es ein Tag weniger. Nur weiss ich nicht, für was es ein Tag weniger wird?

Dienstag, 6. Januar 2015

Madonna

Am Bus zum Krankenhaus nimmt C. die kleine TT in die Hand. Blättert darin, Skispringer, Kleinanzeigen, Nachrichten, auf der letzten Seite endlich die Tabloide mit einem Bild von Madonna. Wir sehen uns ähnlich: Kleine Augen, geschwollene Backen – ihre von Botox, meine von der Chemo. Die Therapie hat mein Gesicht neugemalt. Ich erkenne mich kaum im Spiegel und wenn ich die Bilder der ersten Therapiesitzung mit heute vergleiche vergeht mir der Mut. Wie ein kaltherziger Maler hat der Krebs meine Züge neugestaltet, wie ein Architekt ohne Plan, wie ein Tischler ohne Hobel. Und ich bin machtlos. Auch wenn ich probiere mich selbst anzumalen, einen Plan oder eine Hobel zu finden, empfinde ich es nur als lächerlich. Wie eine alte Diva, die sich nicht abfinden kann, dass die Zeit sich auch aus ihrer Schönheit ernährt. Aber es ist verdammt schwierig sich damit abzufinden, dass an Weihnachten und Sylvester nur solche Familienfotos entstanden sind, an dem ich einfach nur fremd und unglücklich aussehe. Dabei fühle ich mich nicht besonders unglücklich oder fremd, nur die Reflexion zeigt mich so und das erschreckt mich.

Selfie mit Elfi, dem treuesten Plüschelefanten.
Ich war zwei Wochen – über Weihnachten – in Ungarn. Es war komisch dort im Plattenbau, in der Zwei-Zimmer-Wohnung meines Vaters. Die Rohren sprachen, der Wind peitschte an den Rollläden und ich lag in meinem alten Bett – eigentlich ein Sofa aus den 70-ern – und traute mich nicht Schmerzen zu haben. Dabei freute ich mich auf meinen Vater – er ist ein guter Krankenpfleger –, auf meine Muttersprache, auf die Rindfleischsuppe, den Pusztasalat, die eingelegten, kleinen, sauren Melonen. Neue Nebenwirkungen kamen. Hitzewallungen. Ich saß oder lag irgendwo und wie ein Tsunami brachen meine Poren aus. In einem Moment war mir heiß und im nächsten war ich klitschenass. Ich konnte nicht schlafen. Nicht nur wegen den Hitzewallungen, auch weil drei Stockwerke unter uns Freunde sich trafen und dabei Technomusik hörten und probierten diese zu überdröhnen und ein Gespräch zu führen. Am ersten Abend in Ungarn ging das so bis ungefähr 5 Uhr morgens und dann war ich schon komplett erschöpft, wie ein Marathonläufer den die Gelsen mit ihrem ständigen Sümmen nerven. Ich brach fast in Panik aus: So wird es noch zwei Wochen weitergehen und ich kann nicht weg von hier? Dann fühlte ich mich plötzlich alt und erbittert. Wie mein Vater sein kann. Und ich erschauderte und probte vor dem Spiegel und setzte mir künstliche Gesichter mit guter Laune auf um nicht, wie mein Vater auszusehen. Nach dem dritten Tag gab ich auf und ließ die miese Stimmung auf mir sitzen. Ich war endgültig erschöpft und konnte mich nicht mehr erinnern, wann ich die letzte Nacht durchgeschlafen habe oder wenigstens mit einem erholten Gefühl am Morgen aufgewacht bin. Irgendwann kam Weihnachten, Baum schmücken, Weihnachtsessen essen und Weihnachtslieder singen. Meine Familie war da, aber ich war so weit. Heuer konnte ich nicht einmal Geschenke besorgen, konnte ich den Kalender für meinen Vater nicht zusammenstellen, die Stirnlampe für meinen Bruder finden, den Leatherman für C. Jeder bekam irgendwas und es war mir egal. Nur als ich dann selbst Geschenke bekommen habe, gut durchdachte, schöne und praktische Sachen, hatte ich kurz ein schlechtes Gefühl.

In den zwei Wochen habe ich meinen Vater sprechen lassen und hörte ihm nicht immer zu. Aber das machte ihm nichts aus und ich glaube er war froh, dass ich nicht weglaufen konnte und er mir erzählen durfte. Über seine Kindheit, über die Stadtregierung, über seine gesundheitlichen Beschwerden. Nur wenn er sich über mich gebeugt hat, mit Tränen in den Augen, mit einem supertraurigen Blick, dann musste ich ihn wütend rausschicken. "Lass mich in Ruhe, ich will keine Mandarine, keinen Tee, kein Brot mit Salami". Irgendwie ist es gleichzeitig schön, dass jemand mich so lieb hat, wie er und gleichzeitig nervig, dass ich meine Krankheit ständig in seinem Gesicht sitzen sehe. Er wollte, dass ich nach jeder Chemo – es sind noch zwei – nach Hause zu ihm komme. Zehn Stunden im Zug und dann die pfirsichfarbene Wände anschauen und Warten, dass die Schmerzen weniger werden. Er meint es ja nur gut, aber das ist nichts für mich, wenn ich wie eine kranke behandelt werde – ich lasse mich zu sehr auf die Rolle ein und dann ist es viel schwieriger aus ihr wieder herauszukommen. Ich bleibe lieber bei meinem Keller, dem kleinen Chaos und C. der mich nicht, wie eine kranke behandelt, sondern mit mir lacht, wenn ich ihm sage, dass ich wie Madonna aussehe oder wie gespiebene Gerstlsuppe.