Sonntag, 14. Dezember 2014

Nägel

C. hat gesagt, dass der Arzt das schon damals gesagt hat. Dass meine Nägel als Nebenwirkung abfallen können. Deswegen tun sie so weh. Das ist ecklig. Ich denke ans Mittelalter und an Liz Taylor. Weil meine Fingerkuppel so empfindlich sind – als ob ich eine Katze auf dem heißen Blechdach wäre. Wie der Titel des Filmes mit Liz Taylor und Paul Newman. Ein toller Film. Ein scheiße Gefühl. Ans Mittelalter, weil das so grässlich war. Da riss man den Menschen die Nägel raus, um sie von etwas zu überzeugen, dass sie nicht glaubten. Ein Gott, eine Idee, ein König, ein blöder Spruch.

Heute war ich Skifahren am Gletscher im Stubaital. Ein Disneyland aus Eis und Stahl. Eine Vorführshow der neuesten/teuersten/coolsten Wintermode. 8000 Gäste, sagte der ungarische Kellner/Putzmann/Mädchen für alles beim Selbsbedienungsrestaurant außen bei der Eisgratbahn. Wir aßen eine Currywurst mit Pommes und ich fror, weil es windig war. "Und das ist nicht mal so viel", meinte der Ungar weiter. Im Sommer ist er zuhause – "ich mache das seit vier Jahren" – und hat einen Basar am Balaton. Er will mit uns sprechen, mir fließen die Tränen ständig, weil ich draußen bin und das seit einiger Zeit (seit der 3. Chemo) nun so ist.
Ich bin nicht gesprächig, aber es interessiert mich was er sagt und ich versuche es trotzdem. Leider fließen mir die Tränen weiter, auch meine Nase fängt an, und ich suche nach Taschentüchern und kann mich nicht darauf konzentrieren was er sagt. Dann muss er weitermachen – "wir haben eine grässliche Chefin" – und er wünscht uns zweimal viel vergnügen und mir fällt nichts ein, was ich ihm wünschen könnte.
 Dann sitze ich im Restaurant und schaue den Menschen zu, wie unter ihren Jacken Protektore hervorkommen, die wie eine Ritterausrüstung aussehen. Als ob sie nicht zum Spaß auf den Gletscher komemn würden, sondern um zu känpfen, hinzufallen oder sich zu verletzen. Sie trinken schaumiges Bier, welches an Gläsern herunterrinnt und sie essen Germknödel mit Vanillesauce und schwarzen Pünktchen drauf. Ohne schwarze Pünktchen – der Mohn – würden sie mir nicht gefallen. So finde ich Germknödel das hübscheste Gericht am Gletscher.

Dann stehe ich in der Schlange für 15 Minuten um wieder hinunter zu fahren. Letzte Gondel, Rundherum Menschen, mit Skiern, Snowboards, klobrig, robotmäßig. Wir stehen so nah aneinander, wie man das sonst nicht tut in Österreich. Ich denke daran, wenn ich Gletscher wäre würde ich mich aus lauter Wut einfach rütteln – all diese Menschen in mein Eis hinunterschlucken. Die Gondeln, die Drahseile, die Restaurants. Viele kitzelnde Ameisen.

Zuhause nehme ich eine warme Dusche und schaue meine Nägel an. Ich will nicht das sie abfallen. Vielleicht fallen sie ja nicht ab. Vielleicht hat C. das falsch verstanden. Ich lasse das Wasser auf meinen kahlen Kopf fließen. Hinunter am Rücken, an meiner Narbe, am Bauchnabel, am Knie entlang, auf meine große Zehen. Dort spüre ich das Wasser besonders stark. Als ob das heiße Wasser dort mit meinen Zehen zusammenwachsen würde. Ich rieche schon das Fleisch, welches C. für uns in der Küche vorbereitet. Dann steige ich schnell aus der Dusche und suche den Totenkopf aus Zahnpaste. Er ist weg. Ich kann mich nicht entscheiden, ob mich das beunruhigen oder froh machen soll.

Freitag, 12. Dezember 2014

Totenkopf

Schon seit zwei Wochen haben wir einen Totenkopf im Badezimmer. Zahnpaste an den türkisfarbenen Fliesen. Es sieht wirklich so aus: Die Augenhöhlen, der Schädel, dieser leere Platz wo einmal die Nase war. Nur die Zähne und der Kiefer fehlt. Wenn ich am Klo sitze, fällt mein Blick direkt darauf. Oder wenn ich in den Eimer kotze. Irgendwo habe ich gelesen, jeder muss sein "Kotzeimer" haben während der Chemo. Meiner ist vom Hofer. Irgendwann waren mal Äpfel drinnen. Oder Orangen. Und ich habe mir gedacht, der wird noch gut kommen. Ich schmeiße ihn nicht weg. Ohnehin habe ich ihn erst einmal in seiner neuen Funktion benutzt. Wahrscheinlich war die Kotzerei eh nicht von der Chemo. Aber ich bin eine schlechte Kotzerin. Für mich gibt's kaum was schlimmeres. Ich fühle mich immer als ob ich ersticken würde. Ich habe zu viel gegessen, mein Magen macht nicht mit – ich muss lernen, das Essen auch mal liegen zu lassen. Nicht wie ein Hund, alles aufessen, bis es was gibt. Der Eimer ist durchsichtig und hat das Hofer-Logo drauf "Da bin ich mir sicher". Das wird mein Kotz-Slogan. Den Totenkopf putze ich nicht weg. Einerseits, weil ich faul bin, andererseits ist er eine nette Erinnerung an die Sterblichkeit.

Samstag, 6. Dezember 2014

Ordner

Ich denke ständig an Altersheime. In Altersheime an Zimmer. In Zimmer an alte Menschen. In alte Menschen an gebrochene Herzen. In gebrochene Herzen an Erinnerungen und Wünsche. Irgendwie bin ich auch so ein alter Mensch. Die Chemo macht mich fertig. Im Kopf. Sie macht mich müde. Anfangs war ich neugierig, wie das so ist, so eine Chemo. Ich war neugierig auf die Symptome, die mit der Hand zu fassen sind. Kotzen, Gelenkschmerzen, Haarausfall. Ich glaubte, das wär's dann auch. Aber was die Chemo im Kopf macht, ist viel schlimmer und ich denke daran, dass ich nicht mehr will.  Und ich bin erst bei der Hälfte. Alle anderen sagen, ich bin schon bei der Hälfte. Früher hätte ich das sicher auch so gesagt, aber das ist das schlimme an dieser Behandlung. Ich will nicht mehr - und das hätte ich über mich selbst nie geglaubt.

Ich habe einen Ordner. Es steht brustgesundheitzentrumtirol drauf. In diesem Ordner ist alles drinnen, was mein Brustkrebs ist. Ich bin aber unordentlich. Ich fülle es mit Briefen von der TGKK, Tilak, mit Prospekten über vaginale Gleitmittel auf Wasserbasis (einer der schlimmsten Nebenwirkungen: Sex ist einfach als ob ich Glassplitter eingeführt bekommen würde - trotz Gleitmittel) und einem Comicheft in dem Kinder erklärt bekommen, was Brustkrebs ist. Letztere ist das einzige, was mir gefällt. Jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus gehe, wird die Mappe dicker und bunter. Aus irgendwelchem Grund machen sie die Prospekte immer besonders bunt, besonders schön, als ob die ganze Krankheit Spaß machen könnte. Naja, sicher ist es keine Lösüng alles grau und schwarz zu machen. Das ist auch nicht die richtige Farbe. Es gibt einfach keine richtige Farbe für eine Krankheit.

Ich hasse Papierkram. Ich weiß nie, was wichtig ist, was nicht. Was darf ich wegschmeißen, was auf keinen Fall. Letztens habe ich wieder den falschen Pass mitgebracht. Statt Chemopass den Ambulanzpass. Der Chemopass ist blau und in ein Plastik eingehüllt. Da schreibt Dr. Salzer meine Gifte hinein. 120 mg, 572,15 mg und 600 mg. Mein Cocktail, der danach durch meine Adern rast. Wie ein verrückter Ritter schlägt er mich mit seinem Schwert von innen, so stelle ich mir meinen Cocktail vor. Rot, im Panzer, schwer, verrückt. Ich habe heute zum erstenmal in den Pass geschaut. Seit der ersten Chemo habe ich mehr Leukozythen und weniger Trombozythen. Es könnte auch sagen, ich habe mehr asjoékéaksék und weniger posdjfopjpga. Was ich definitv habe ist "keine Ahnung". Das macht mich auch ziemlich fertig.   

Ich war heute mal spazieren. Hier hinter dem Haus, Richtung Klamm. Es tat mir wirklich gut. Frische Luft belebt, auch wenn man es beim losgehen überhaupt nich glaubt. Andere Spaziergänger waren mit ihren Hunden unterwegs. Alle. Wenn ich Leute mit Hunden alleine unterwegs sehe, denke ich immer daran, dass die Abendkultur vereinsamt. Die Menschen sich nur noch mit Tieren verstehen können oder überhaupt nicht mehr. Wie dieser Mann, der in Innsbruck in einer Wohnanlage gestorben ist. Nur dann fiel er anderen auf, als man seine Leiche schon im Flur riechen konnte. Schnell geht das. So zu vereinsamen. Und man brauch nicht einmal irgendwelche unmöglichen Probleme haben. Man muss nur ein bisschen blöd sein. Das Telefon nicht abheben, wenn Freunde anrufen - weil man einfach mit niemandem sprechen will (gleichzeitig will man und will man nicht). Hilfe nicht annehmen, wenn sie angeboten wird - weil man es ohnehin alleine schafft (man schafft es nicht und auch nicht zu zweit). Nicht ausgehen - weil man sparen will oder zu faul ist, sich "hübsch" anzuziehen. Und nach einer Weile bleibt man stecken und je länger man im "nihil" steckt, umso schwieriger wird es wieder herauszukommen.

Ich dachte an meine Oma, die 93 Jahre alt geworden ist. An ihre Ordner in ihrem Haus. Wie sie schon mit 80 von ihrem Sohn abhängig war, der ihren Papierkram erledigte. Alle zwei Wochen. Wenn er zu Besuch kam. Obwohl die Oma noch so klar im Kopf war. Das sagte man immer über ihr, weil sie das Radio hörte und bis zum Ende wusste, wer die aktuellen Minister im Parlament waren. Klarheit macht Angst, an Klarheit verzweifelt man, vielleicht ist es besser für einen selbst, wenn man diese Klarheit einfach verliert.

Ich habe diese Situation vor meinen Augen: Meine Oma in ihrem riesigen Zimmer, links der dicke, dunkle Holzschrank, oben ihre Ordner. Mein Vater (ihr Sohn) streckt den Arm aus, nimmt einen der schwarzen Ordner herunter, meine Großmutter pfeifft "Nein, Jostikám, den anderen - ich will erst den anderen". Mein Vater sagt nur, das hier ist viel wichtiger und Oma bleibt still, weil sie keinen Einfluss darauf hat, was mit ihren Dingen passiert, was ihr aus dem Geschäft gekauft wird, was sie zu Mittag zum Essen bekommt. Vielleicht hat sie deswegen die Hausierer geliebt, die Zigeunerinnen mit den Kissen und Decken am Rücken, die ihr durch das Fenster ihre Waren anboten und sie konnte wählen, ob sie die Daune nimmt oder die Schafwolle. Und an Weihnachten schenkte sie mir die Schafwolldecke und ich fand die Decke fabelhat und ihre Augen strahlten und sie kicherte leise und gerissen und ihr Kopf wackelte, weil sie Parkinson hatte. Mein Vater verscheuchte die Zigeunerinnen immer sehr laut. Wir kaufen nichts und schlug das Fenster zu.




Dienstag, 2. Dezember 2014

Brief

Immer ist es das gleiche. Mit oder ohne Fasten. Die ersten Tage nach der Chemo geht's gut und dann fällt alles auseinander. Dann sehe ich meinen Körper, wie aus dem All, dann fühle ich meine Nägel, wie angeklebt, dann bleibe ich mit den restlichen Stoppeln im Kissen hängen. Ich bewege meine Beine, meine Arme, aber sie sind immer ungemütlich, unpassend. Sie sind heiß oder kalt, sie sind steif oder zu weich. Meine Augen als ob sie auch von jemand anderem wären. Meine Hände, als ob sie von ganz weit kommen würden, bis ich mit ihnen mein Gesicht, meine Knie, meine Füße anfasse.

Wie der Brief von meiner Tante. Wer schreibt schon Briefe, heute. Seitdem ich Krebs habe, ist das nun der zweite Brief von ihr. Mit richtigen Wörtern, Buchstaben, Unterschrift. Nicht eine Postkarte. Nicht schön oder zierlich. Einfach nur ein Brief. Hat mir gestern der Postmann gegeben. In die Hand. Er hat zweimal geklopft, so stark an der Tür, dass ich aufstehen musste und öffnen. Sonst fällt er noch samt Tür ins Haus. Vier Briefe. Greenpeace, Tilak, Ärzte ohne Grenzen und das von meiner Tante. Sie hat eine schöne Schrift. Sie ist ein bisschen verrückt und deswegen wundert es mich, wie schön und geregelt ihre Schrift ist. Sie zittert auch stark, aber das merkt man an den Buchstaben kaum. Ich habe auch viele Briefe geschrieben, einige habe ich auch bekommen. Vor allem von meiner Schwester. Als es noch kein Internet gab und das Telefonieren teuer war. Die habe ich noch immer. Ich wahre sie in Bonbonschachteln auf, sie sind im Schrank bei meinem Vater. Und wenn ich ab und zu nach Ungarn fahre, mache ich die Schachteln auf und lese die Briefe bis weit nach Mitternacht und bin den nächsten Tag müde.

Ich liege also im Bett mit den vier Briefen. Ich lasse Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen einfach auf C.-s Betthälfte liegen und öffne den kleinen, weißen Umschlag. Ein A4-Blatt in Hälfte gefaltet, dann quer drauf losgeschrieben. Kedves A. – Liebe A. mit Diminutiv. Und große, luftige Zeilen, in fünf Minuten ist das ganze gelesen. Ein so großer Aufwand. Briefumschlag besorgen, auf die Post gehen, in der Schlange stehen und in einer Woche bekomme ich die Paar Zeilen. Wir sprechen kaum mit meiner Tante. Sie lebt in Ungarn, in meinem Heimatort und dorthin fahre ich kaum mehr, seitdem die Oma tot ist. Eigentlich ist ja immer alles beim Alten. Nur, dass sie (meine Tante und mein Onkel) auch von Jahr zu Jahr älter werden, weniger oder mehr essen, das Bad renovieren und sich nach ihren Kindern sehnen, die im Ausland oder in einer anderen Stadt leben. Dann sprechen wir ab und zu an meinem Geburtstag.

Meine Tante schreibt über ihre Kinder. Der kurze Brief macht mich zutiefst traurig. Mit meiner Cousine und meinem Cousin habe ich schon seit Jahren nicht gesprochen. Meine Cousine hat lange in Dänemark studiert und lebt nun mit ihrem Freund seit vielen Jahren dort. Sie muss jetzt um die 33 Jahre alt sein. Sie arbeitet in einem Lager und sortiert Ersatzteile (die übrigens in Ungarn hergestellt wurden). Ihr Freund ist "Mädchen für Alles" bei einer Familie, versorgt die kranke Mutter, füttert die Tiere am Bauernhof. Meine Tante schreibt: Sie sind mit ihrem Lohn zufrieden, aber wollen natürlich nicht von hier in die Pension gehen. Scheiße, denke ich mir nur und irgendwie erdrückt mich die ganze Misere. Die vielen Kinder, die mit ihrem Diplom in den Westen gehen, ihre Eltern verlassen und dann doch nicht Fuß fassen können. Es drückt schwer auf meiner Lunge und meinen Augen. Als ob ich diese Misere hätte. Als ob das auch mit mir in jedem Moment passieren könnte. Wusch, der Teppich weg unter meinen Füßen. Eine Krankheit, etwas das dich aus dem Konzept bringt. Das Leben ist ja nur ein Kartenhaus. Ich lege den Brief zu den anderen auf C.-s Betthälfte und denke an die letzte Zeile, die meine Tante geschrieben hat. "Wir haben keine Berge, aber wenn Ihr die Möglichkeit habt, sehen wir euch gerne." Ich bleibe aber liegen und glaube, dass alles zu vergänglich und skurril ist.

Donnerstag, 27. November 2014

6. Stock

Ich hatte bisher überhaupt keine Angst vor der Chemo. Heute schon. Eigentlich schon in den letzte zehn Tagen. In denen ich jede Nacht schweißgebadet aufwachte. Und zwar mindesten fünfmal pro Nacht. Mein Körper ein heißer Ball. Dann ein kalter Fisch. Schnell, abwechselnd. Es fängt immer in meinem Nacken an, läuft über meinen Kopf und von dort breitet sich die Hitze in meinem ganzen Körper aus. Ich schmeiße die Decke auf den Boden – gefühlte drei Minuten später taste ich im Dunklen um sie auf meinen zitternden Körper zurückzuziehen.

Der Chemoraum ist im sechsten Stock der Frauen- und Kopfklinik. In der Mitte gibt es einen ovalen Tisch, ein Korb mit Bananen, Äpfeln, Sodawasser, Salz und Pfeffer, Zucker. Schöne Aussicht auf die Nordkette. Bisher war fast jede Chemo bewölkt. Heute am Nachmittag schien die Sonne auf einen Fleck auf den Bergen und kroch immer weiter hinauf, je später es geworden ist. Dann verschwand sie, weil das Fenster beendete und ich nicht bis zu den Bergspitzen sah.

Heute saß ich direkt neben dem Klo. Meine Ärztin heißt Salzer. Sie ist nett. Sie sagte "gratuliere - ich habe über deinen Preis gelesen". Manchmal überrascht's mich, dass Leute unsere Zeitung wirklich lesen. Dann Blutprobe, Harnprobe. Obwohl Salzer nett ist, hat sie mir heute ziemlich wehgetan. Sie fand keine Vene in meinem rechten Arm. Der Raum war beinahe voll, die kanadische Brustkrebspatientin bekam keinen Stuhl mehr, der automatisch umstellbar ist. Sie musst im "Relax-Sessel" sitzen. Salzer stach und stach un stach in meinen rechten Arm und es tat nur weh. Es spritzte kein Blut in die Plastikröhre wie sonst. Dann ging sie auf meinen linken Arm über und entschuldigte sich. Ich sah C. an als sie stach. Diesmal war es weniger schmerzhaft und dann hörte ich mein Blut in das Plastik rauschen. Ich sah auf mein Blut. Dunkel, rot, schnell. Über 1,5 Stunden warten bis die Ergebnisse ankamen. Alles in Ordnung, die Chemo kann losgehen.

Ich bekomme immer vier Flaschen. Die 1. ist irgendwelche Infusion gegen Allergien, dann Fortecortin gegen Schwellungen und dann die zwei "Chemoflaschen", dessen Namen ich mir nicht merken kann. Salzer stellt sie mir wirklich, wie Weinflaschen vor. Cz. sagt sie und stellt sie vor meine Nase ob ich damit einverstanden bin. Ich nicke, natürlich bin ich damit einverstanden. Nur ist es leider kein Wein.

An der Wand gibt es sechs Bilder, eins mit einem Schmetterling. Ich frage mich, warum hängen diese kindischen Bilder hier. Sie sind beleuchtet, wie in einem Ausstellungsraum und wir Patienten sitzen uns gegenüber, wie andere Ausstellungsgegenstände.

Die ganz links ist groß, hart, stark. Eine Bäuerin vielleicht. Sie hat die wenigsten Haare. daneben sitzt eine neue. Die habe ich nie gesehen. Ihr Freund/Mann kommt in der Mittagspause mit einem I-Pad und zeigt ihr Fotos von einer Swarovski-Veranstaltung. Neben ihr sitzt die Frau mit dem lauten Mann. Heute sagt ihr Salzer etwas, daraufhin seufzt die Frau tief und ihr Mann schießt tatsächlich ein Bild mit dem Handy. "Man muss es festhalten, diese Scheißzeit". Neben ihr sitzt eine Türkin. Auch neu. Sie spricht mit der Putzfrau auf Türkisch. Dann spricht sie auch mit den Ärzten und Krankenpflegern auf Türkisch. Nur die Putzfrau versteht sie. Zu Mittag sagt sie "Frühstück". Der Pfleger fragte sie ob sie Schweineschnitzel haben möchte. Der Geruch füllt den Raum. Ich faste heute den dritten Tag und lese Rezepte und meine Nase funktioniert so stark, es treibt mich in den Wahnsinn. Der Geruch bleibt lange. Wir schauen Madagascar 2 am Laptop mit C. und lachen viel.

Zwischendurch wird die Infusion getauscht und peitschende Schmerzen laufen in meine Adern. Es zieht mich auch unten zusammen. Als ob jemand eine Nadel in meine Chlitoris gestochen hätte. Zum Glück gehen die Schmerzen so wie sie gekommen sind, schnell vorbei. Um vier Uhr fünfzig sind wir fertig. Zum Abschluss kriege ich eine lange Spritze in meinen Bauch. Es brennt höllisch. Mein ganzer Körper angespannt. Ich denke nur "scheiße, wie lange noch". Jedesmal habe ich das Gefühl, es dauert länger. Dann sagt die Ärztin "wir sind bei der Halbzeit, jetzt können sie zurückzählen" und ich gehe zum Aufzug – meine Beine fühlen sich wie zwei schwere Steine an – und verlasse den sechsten Stock. Erleichtert, dass ich drei schon hinter mir habe.

Flohmarkt, Sauna, Chemo

Flohmarkt

 

"Wie geht's eich?" fragt der Gemüseverkäufer am Flohmarkt. Er kommt jeden Sonntag aus Garmisch und hat einen Anhänger dabei, den er an der Seite aufmacht und unter einer Plane stehen dann Äpfel und Birnen und Khaki und Rucola.
Anfangs hat er mich immer über den Tisch gezogen und ich ließ mich von ihm verarschen, weil man das Gemüse anfassen durfte und es mich an mein Zuhause erinnerte. Er ist ein echter Verkäufer. Einmal sagte er, er schenkt mir die Melone, wenn ich ihm das genaue Gewicht sage. Er hat gewonnen und ich habe die acht Kilo dreihundert Gramm Melone gekauft. Heute verarscht er mich nicht mehr und erzählt von seinem Leben. Ich bin fasziniert. Er lebt seit über zwanzig Jahren in einem Wohnwagen. "Wir brauchen nicht's anderes, sind ja ständig unterwegs und auch in den Urlaub fahren wir mit dem Wohnmobil". Dann erzählt er über Istambul, wie toll die Stadt ist. Er war nur zwei Tage dort auf Urlaub, hat aber unsaglich viele Theorien gemacht. Wie unterschiedich die deutschen Türken sind von denen dort in Istambul. Er fragt nochmal ob's uns gut geht, als ob er es heute zum erstenmal tun würde. Ich sage, ja, dabei geht es mir überhaupt nicht gut. Ständig träne ich und meine Nase tropft, es ist schlimm, weil ich unzählige Papiertaschentücher verbrauche und meine Nasenspitze pocht als ob sie ihr eigenes Herz hätte. Auch mit meinem Spiegelbild ist es nicht einfach. Jetzt, dass die Wunde verheilt ist, sieht man das wirkliche Ausmaß der OP: ein wahrhaftiger Krater – dabei meint C. es sei überhaupt nicht schlimm, man sieht es kaum. Ich würde den Krater am liebsten füllen. Das geht aber nicht.

Wir schlendern durch das Chaos der Flohmarktstände. Uralte Skie, unheimliche Puppen, gebrauchte Kleider, Fotos wahllos zusammengewürfelt in einer Kiste. Ganz oben auf der Fotokiste ist ein Bild zu sehen, welches ich mag. Ein Pärchen im Studio, vllt. Ende der dreißiger. Sie im weißen Kleid, er mit einem dünnen Schnurrbart. Der dünne Schnurbart umarmt das weiße Kleid von hinten. Irgendwie rührend. Auf einmal kommt ein Junge. Wir haben was gemeinsam. Er ist acht Jahre alt, zirka, ich siebenundzwanzig. Er trägt keine Mütze. Ist ihm nicht kalt? Er hat nicht nur eine Glatze, auch seine Augenbrauen sind weg. Ich finde es unfair, dass er diesen Scheiß auch machen muss und dabei ist er so jung...

Sauna

 

Wir waren gestern in der Saunawelt in Seefeld. Die Rezeptionistin wollte meinen Studentenausweis nicht annehmen: Der ist abgelaufen. Der ist nicht abgelaufen. Es steht drauf, gültig bis 30. November. Dann kann er nicht abgelaufen sein. Ich bin in kämpferischer Stimmung. Sie haben sich nicht neu inskribiert, ihr Freund schon. Es steht trotzdem schwarz auf weiss, gültig bis 30. November. Dann druckt sie zwei Studententickets.

Kaum was los in der Saunawelt. Trotzdem treffen wir einen Bekannten. Einen alten Paragleiter. Natürlich kennt er C. Ich sitze auf einer Liegematte zwischen den beiden Männern. Sie unterhalten sich über mich hinweg miteinander. Übers Berggehen und Paragleiten. "Ich mag keine lauten Leute", sagt der Paragleiter. "Einmal bin ich mit wem gegangen, der hat tatsächlich eine Mini-Stereoanlage mit am Berg genommen. Hast du sie noch alle?", er zeigt auf seine Stirn. Er sieht wie der totale Redneck aus. C. mag ihn aber, weil er gute Paragleiter-Videos macht und auch Schirmhersteller ist. Am Arm hat der Paragleiter ein Tattoo. Wenn ich mich zu ihm drehe, ist es das was ich aus nächster Nähe sehe. Es ist Rund, in den Rand fließt ein Paragleitschirm ein, unten ist eine Hand – als ob sie eine Wahrsager-Kugel halten würde. Ich spreche ihn aber nicht an, denn anfangs macht er so als ob es mich nicht geben würde. Ich will weg, irgendeine andere Sauna ausprobieren. Wir gehen mit C. hoch in das Panoramabecken und schauen von dort die Berge an und ich frage mich, was das Tattoo wohl bedeutet hat.

Langsam füllt sich die Saunawelt. Gibt es überhaupt so viele Einwohner in Seefeld? Und das an einem Mittwoch-Nachmittag. Es gibt immer Leute, die einem auffallen. Die Saunamenschen: Ein alter Mann mit großer Nase, ein Pärchen bestehend aus altem Mann und junger Osteuropäerin (sehr hübsch, irgendwie total unpassend, aber "es ist besser mit einem netten, alten Herrn zu sein, als mit einem jungen Arschloch, der dich auch noch schlägt"), ein junger Mann mit Glatze. Ihn sehe ich nur einmal, aber auch wir haben etwas gemeinsam. Krebs. Ich habe noch vereinzelt Haare. Auf meiner Kopfhaut, am Rest des Körpers. Er ist sehr sportlich und läuft sehr schnell in das warme Aussenbecken hinein. Er ist ganz nackt. Ich sehe seinen ganzen Körper. Es ist wie ein Brandmark. Ich selbst sehe aber noch nicht aus wie Krebs, denke ich. Ich sehe aus wie ein kleines Hühnhen, dem die flauschigen Federn langsam ausfallen.

Bei der letzten Sauna gibt's Aufguss. Wirklich heiß, ich gehe zwei Minuten vor Ende raus. Schnell duschen, schnell anziehen, wieder mit der Rezeptionistin argumentieren. Diesmal wegen der Parkkarte. Sie gibt uns letzendlich eine und wir fahren Heim und C. sagt, ich war die schönste Frau in der Saunawelt. Danach schaue ich in den Spiegel und denke gar nicht an den Krater in der linken Brust.

Montag, 17. November 2014

Hand


Ich habe gar nicht gemerkt, dass er die Hand auf meinen Rücken gelegt hatte. Auf diesem Foto sah ich nur meinen Kopf, von hinten, wie ein dick eingewickeltes Ei. Nur als ich zum zehnten mal das Bild ansah, bemerkte ich die knochige Hand. Meines Vaters. 

Wir hatten unsere Kämpfe – das würde so in einer Frauenzeitschrift stehen, unter der Rubrik Schicksal/Reportage. Wir hatten sie wirklich. Einmal schmiss ich ihm aus Wut ein Kilo Brot an den Kopf. Verfehlt. Es landete unter der Küchenbank. Ich bereute es schon als das Brot in der Luft war. Dann kroch ich unter den Tisch um es wieder rauszuholen. Mein Vater blieb ruhig und sagte nichts.

Er blieb auch ruhig als ich ihn im September anrief. Von der Seegrube aus einem Sonnenstuhl. Ein Krahvogel saß vor mir auf der kleinen Wand und ich sah ihn an. Ich wollte es ihm nicht sagen, ich dachte, es bricht ihm das Herz. Dann sagte er aber seelenruhig, ohne nur ein bisschen die Stimme zu verändern, dass das ein guter Krebs ist. Ich musste fast lachen. Er sagte, auch deine Stiefmutter hat eine Freundin, die wieder gesund geworden ist. Und die war viel älter. Dann aber erzählte ich, dass ich schon ein OP-Termin habe und gerade in den Bergen bin und einen Krahvogel anschaue und er meinte Kopf hoch, das wird schon wieder und ich hängte auf.
Es war unwahrscheinlich, dass neben mir die Frau ein ganz kleines Baby an ihre Brust gewickelt hatte und ich den Krebs. Es war auch unwahrscheinlich, dass Menschen Bier getrunken haben und sie C. fragten ob er ein Foto von ihnen machen könnte. Ich dachte nicht an Fotos, ich dachte daran, dass die Berge im Stubaitail und Italien sehr weit waren und ob man nach dem Tod reisen kann. Vielleicht mit den Wolken, in Zeit und Ort. Und das ich im Arm von C. sterben will, fest eingewickelt wie ein Embrio. Und im Radio soll “Summertimes” von Louis & Ella laufen.

Heute denke ich nicht mehr an den Tod. Ich denke daran, dass das Wochenende geklappt hat. Dass sie alle gekommen sind, um mir zu klatschen. Vier Stunden gereist. Auch wenn mein Vater selbst in Jogginghosen ankam und frischgekochte Kartoffeln im Restaurant verlangte. Weil der Gast ist König. Einer seiner Lieblingssprüche. Und auch wenn wir alle zusammen wie Zigeuner die Buchmesse stürmten. Auch, wenn sie mit ihren Rucksäcken und Jacken viel zu viel Gepäck hatten. Und auch, wenn sie laut stritten, welche Sitze sie reservieren sollten. Auch, wenn sie alle Besucher störten, die sich die vorherige Veranstaltung anhören wollten. Auch, wenn mich die Hand an meinen Rücken, dort bei der Verleihung gestört hat. Im nachhinein finde ich alles, was und wie es passiert ist, wirklich nur toll.

Montag, 10. November 2014

Rhinozeros

Langsam ist meine Krebshülle so, wie  es aus romantischen "in memoriam XY"-Fotoshootings oder amerikanischen Filmen zu sehen ist. Eine Haut, leer wie nasse Plastiktüte, ein Blick, fiebrig und nichtssagend. Jeden Tag schaue ich in den Spiegel, was hat sich verändert, was ist besser geworden, was schlechter, was anders. Auf meinem Kopf ständig eine Mütze, ein Tuch, irgendwas. Sonst fühle ich mich, wie ein rohes Ei.

Gestern musste ich nicht in den Spiegel schauen. Wem gehört das Bein da im Bett. Es ist meins, dünn, kreppig, Rhinzeroshaut, eine Satellitenaufnahme von einem abgetrocknetem Lavastrom. Es könnte auch jemand anderem gehören. Es könnte auch nur ein Bild sein. Ich kann das Bein lange anschauen und der Besitzer tut mir leid. Dann merke ich erst, dass ich mir selbst leid tue.

Obwohl ich so dünn bin, fühle ich mich, wie eine Kuh - überall stehen mir die Knochen heraus. An der Hüfte, den Knien, den Ellbögen. Wenn ich mit meinen Händen über mein Körper streife, erkenne ich mich nicht wieder.
Von heute auf morgen ist das gegangen. Meine Zähne sind viel zu groß. Als ob sie jemand nicht waagerecht, sondern senkrecht in meinen Mund gesteckt hätte. Oder ein falsches Gebiss, von einem Pferd. Es zerrt an der Nase, zieht das ganze Gesicht auseinander.
Aber Leute sagen, ich hatte noch nie so eine tolle Haut. "Pfu", sagte sogar eine Freundin und wedelte mit ihrer Hand, wie wenn sie etwas ganz heißes angefasst hätte. "Es ist so viel besser', meinte sie anerkennend, weil sie mich noch mit dem Aknefeld gesehen hatte. Und ich falle zwischendurch einfach auseinander.

Jetzt fängt's langsam an. Der Neid über andere. Über ihre Stärke, über ihre Haare, über ihr Lachen, über ihr Appetit. Ich versuche daran zu denken, dass nur noch vier Behandlungen kommen und mein Bild setzt sich auch wieder zusammen.

Als ich die vier Tage gefastet hatte, habe ich ständig Bilder von Essen angeschaut. Habe an Salat gerochen, an Kaffeebohnen und daran gedacht, wenn es mir besser geht, werde ich alles kochen. Und jetzt fühle ich mich unglaublich alt. Sechzig Jahre versetzt. Nichtsbewirkend. Unstark.
So muss es sein, in einem Altersheim, in dem Magazine liegen, der Tag vor sich hertrieft und man sich einen Schweinebraten mit Rotkraut und Apfel wünscht. Aber einen richtig guten, langgeschmort, mit super Kraut und Äpfeln und Semmelknödel. Und selbst kann man ihn einfach nicht mehr machen, weil sich die Hände nicht bewegen, die Füße, die Finger. Jeden einzelnen Schritt hat man im Kopf: Vom Karottenschneiden bis zum Ofen einschalten, sogar den Geruch von gebratenen Fleisch in der Nase. Und am Ende liegt man dann im Bett mit offenen Augen und sieht in eine Ecke, wo eine Spinne sich gerade vom Heizungsschalter langsam abseilt und alles egal ist.

Sonntag, 2. November 2014

Klettverschluss

Jetzt sehe ich aus, wie Auschwitz. Meine Haare sind ganz weg und ich lerne eine andere Seite von mir kennen. Letztesmal hatte ich vor 27 Jahren eine Glatze. Jetzt sehe ich meine Kopfhaut nach so vielen Jahren das erstemal. Sie ist, wie ein Vollmond. Narben, Muttermale, schlecht rasierte, dunkle Flecken die Krater drauf.
Bisher sah ich aus, wie Sams (runder Kopd, kurze Stoppelhaare und viele Flecken im Gesicht – bei jedem Fleck kann man etwas wünschen). Die Glatze ist aber besser als das Gefühl gestern: Beim lesen habe ich meinen Kopf gekratzt – ein ständiger Begleiter seit der Chemo – und die 3-4 Zenti kurzen Haare landeten auf den weißen Blättern. Die Buchstaben sahen aus, als ob ein dunkles und dichtes Spinnennetz drübergewebt wäre. Ich las die Seite zu Ende und blätterte um und sah noch wie die Haare in die Buchmitte rutschten.

©: Alexander Klaus/ pixelio.de
Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man Skinhead ist. Wenigstens teilweise. Mein Kopf friert. Ich würde eigentlich gerne auf die Straße gehen, ohne Perücke, ohne Kopftuch. Ein bisschen die Fußgänger, Busfahrer, Verkäufer zu schocken. Aber ich friere die Wirbelsäule hinunter bis in meine Zehenspitzen, wenn ich das Tuch abnehme. Auch die gestrickten und gehäkelten Mützen verkleben sich mit meinen Stoppeln, wie ein Klettverschluss. Ich muss lachen, denn die Mütze sitzt schief und ich kann sie nicht zurechtrücken. Wenn ich sie abnehme fühle ich wie die Haare sich sträuben, wie sie sich in der grauen Wolle festklammern. Und dabei fallen sogar die Stoppel irgendwann raus, wie in 2. Weltkriegfilmen, in Büschen, unregelmäßig und unschön.
Auch hat C. gesagt, dass meine Narbe an der Brust, wie ein Reißverschluss aussieht. Manchmal wäre es schon toll dadurch aus der eigenen Haut schlüpfen zu können.

Die Haut in meinem Gesicht hat sich großteils beruhigt. Aber ich will es nicht noch einmal. Diese schmerzhaften Entzündungen. Jetzt lese ich einen Fachartikel übers Fasten bei Chemo – vier Tage nur Wasser – das soll die Nebenwirkungen verringern und Tumorzellen gezielt angreifen, währenddessen gesunde Zellen gesund bleiben. Hört sich gut an. Wenn ich mich ohnehin schon vergiften lasse, warum nicht auch das? Ich hoffe, auch die Pickel halten sich dann im Zaum, sonst muss ich wieder die Spiegel abdecken.

Heute war ich im Flohmarkt und habe einen Kaffee getrunken, den einzigen den ich wirklich mag, vom Coffeekult. Am Flohmarkt verkaufen sie ihn aus einem kleinen, offenen Piaggio. Ich habe den Kellner von letzte Woche erkannt und ihm jetzt in die Augen geschaut ob er mich auch erkennt – wir waren ja zwei Stunden seine einzige Kunden und haben miteinander über Gott und die Welt geredet. Er sagte aber nur 1,80, obwohl ich ihm in die Augen geschaut habe.

Donnerstag, 30. Oktober 2014

Das letzte Mal

"Damit du das letzte Mal deine Haare mit deinem Lieblingsshampoo waschen kannst" – C. in der Tür mit einem Shampoo das nach frischgepresstem Apfelsaft riecht. Stimmt, das ist mein Lieblingsshampoo, aber nur seit kurzem, weil ich es erst vor einem Monat entdeckt habe.

Es sind nur Haare. Für mich sind es nur Haare. C. bekommt Tränen als er den Zopf in der Hand hält. Er will ihn nicht abschneiden, aber sie fangen schon an rauszufallen und ich will nicht Haare in jedem Körperwinkel kleben haben. Ich stelle schnell noch den Kartoffelauflauf in den Ofen, bereite einen Grüntee und laufe duschen.

Erst die Schamhaare fingen an auszufallen. Auch beim duschen. Je länger ich unter Wasser war, desdo mehr. Eklig. Komisch. Jetzt fließen sie in den Kanal. Vielleicht verstopfen sie irgendwann die Rohre. Danach habe ich mich nicht getraut mir die Haare am Kopf anzufassen, meinen Zopf zu öffnen, mich zu kratzen oder zu kämmen. Die Paar langen, herausgefallenen Haare klebten fest unter meinen Fingernägeln und kitzelten meinen Nacken.

© *Clam*/pixelio.de
Also ich sitze im Badezimmer und will es dramatisch machen. Ich denke an Prokofiev oder Rachmaninov als Hintergrundmusik. C. empfiehlt Carmina Burana von Carl Orff. Ich bin dabei, ziehe ein weißes Hemd aus dem Wäschekübel, setze mich auf den Stuhl und will das meine Haare mit dem Rasierapparat einfach abfallen. Wie die Blätter vom Baum bei Föhn. Passt eigentlich eh zum Herbst, bin nun ein Teil der Natur. C. setzt den Helm auf, die Kamera schaltet ein. "Bist du sicher? Willst du nicht noch ein Paar Tage warten?" Nein, sicher. Ich weiß, er sagt es, weil die Pickel noch immer mein Gesicht verunstalten und er bangt, dass es mir dann noch schlimmer geht. Aber wie gesagt, Haare sind mir egal. Die tun nicht weh, die explodieren nicht ständig, die sind zahm. Ohnehin hängt am Spiegel ein Küchentuch um mich nicht ständig selbst zu erschrecken. Mein Gesicht ist zwar viel entspannter geworden, die Pickel deformieren nicht mehr mein ganzes Antlitz, aber schön ist was anderes.  Ich gehe noch immer nicht außer Haus.

Er schaltet Carmina Burana ein, dann die Haarschneidemaschine. Es passiert nichts, die Maschine sümmt sehr leise und ich schaue nach hinten, was ist los. Sie ist einfach kaputt, es bleibt nur die Schere. C. greift meinen Schopf, so viele Haare wie möglich zusammen und schneidet. Er schneidet sie durch, hält sie so, wie ein Huhn, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. "Nicht ziehen", kreische ich. "Entschuldigung", seine Stimme ist ganz sanft. Auf einmal spüre ich, dass mein Kopf viel leichter geworden ist. "Freedom" fällt mir ein, auf Englisch. Warum gerade auf Englisch. Carmina Burana geht langsam zu Ende. Es ist ein fünfminütiger Track auf Youtube. Schade. Ich schaue mich im Spiegel an und muss lachen, dann lachen wir zu zweit und er schneidet mir die Haare noch ein bisschen. Die langen, abgeschnittenen Haare hält C. mit einem rosa Haargummi zusammen und hängt ihn an den Spiegel. Das Haar sieht aus, wie ein Skalp und ich wie Jean d'Arc, nachdem sie die Pocken hatte. Ich dusche mich noch einmal und esse danach den Kartoffelauflauf. Zwischen den dünngeschnittenen Kartoffelscheiben, sehe ich auf einmal etwas braunes, dünnes, langes. Ich nehme es zwischen zwei Finger und fange an zu ziehen – mein Haar, "das gestern auf meinem Kopf heute Skalp"-Haar mit Schlagobers und Parmesan. Es macht mich nachdenklich, denn ich finde wirklich selten mein eigenes Haar im Essen. Sowas hat mich nie geekelt, aber jetzt schon. Als ob es ein gemeiner Spaß vom Schicksal wäre. Ich schmeiße das Haar, samt Parmesan in den Müll. Das letzte Mal, für lange Zeit.

Dienstag, 28. Oktober 2014

Setzen sie sich

Wenn ich nach dem duschen in den Spiegel sehe, schaut der Krebs zurück. Links, fast unter meiner Achsel ist der Schnitt, nur drei Zentimeter. Trotzdem stört er mich, denn die Narbe ist zu lila, sie sieht nicht schön aus und darunter ist ein fehlt ein Stück aus meiner Brust. Sie haben mir das Fleisch rausgeschnitten. Ich bin dreimal drei Zentimeter kleiner geworden. Es ist kein Selbstmitleid, eher eine Art Wut. Auf den Arzt, das Krankenhaus, dass ich "verunstaltet" wurde. Dass alles so schnell ging. Dabei sagt jeder, ich sollte mich doch freuen. In anderen Ländern wartet man viel länger auf einen OP-Termin. Na gut. Ich freue mich. Die anderen wissen's besser.

Bisher hatte ich keine Angst. Jede Nebenwirkung war mir bekannt: Kotzen, Gelenkschmerzen, Bauchschmerzen, Haarausfall. Irgendwie war ich auch neugierig. Eine Glatze, so etwas würde ich mir nie von selbst trauen. Und wenigstens hängen mir die Haare nicht ins Gesicht, wenn ich kotzen muss. Was bringt so eine Chemo mit sich, das hat mich immer schon interessier.

Direkt danach war ich einfach nur müde, wie jemand der den Tag davor zu lange getanzt hat, zu spät ins Bett ging und um acht Uhr trotzdem in der Arbeit war. Die Fahrräder am Innweg fuhren zu schnell an mir vorbei, meine Füße schleppten sich nur langsam und schwer voran, aber ich bestand drauf, spazieren zu gehen. Denn mich nimmt die Chemo nicht von den Socken. Dann vergingen zwei Tage. Ich war in der Arbeit, ging ins Theater, danach auf eine Party und tanzte bis vier und ging schließlich den Tag darauf 800 Höhenmeter im Stubaital und freute mich, dass es mir so gut geht. So verdammt gut geht. Am Sonntag ging ich noch mit C. in den Flohmarkt, aber da fing es schon an.

Es war wie in den Sommern, in denen ich ständig ohnmächtig geworden bin, mit dem Kopf in Suppen gefallen oder auf die Tischplatte. Weil der Lärm zu viel war, die Hitze und ich nicht genug getrunken habe. Wir gingen nach dem Flohmarkt Pizza essen, dabei war ich eigentlich nicht hungrig, aber die Pizza war gut. Alles war zu schnell, auch was nah war, war eigentlich zu weit, meine Hände schienen nicht mir zu gehören, die Bundesstraße war viel zu laut. Ich konnte nich fokusieren, nicht konzentrieren, ich fing nur einzelne Wörter auf, keine Sätze.

Zuhause legte ich mich hin und stand bis Dienstag gar nicht mehr auf. Gelenkschmerzen, eine ewig trockene Mundhöhle, Kopf- und Halsweh, Kotzegefühl und Durchfall. Am Mittwoch ging es mir wieder so weit, dass ich ein bisschen in die Arbeit ging. Arbeit tut mir gut. Ein bisschen, wenigstens. Danach war mein Magen im Eimer. So bald ich etwas getrunken oder gegessen habe, rannte ich aufs Klo. Dann war mein Magen wieder halbwegs und ich bekam Pickel. Erst nur ein Paar und dann immer mehr. So viele, dass ich mich eine Stunde schminken musste, bis ich mich auf die Straße traute. Dabei immer diese unglaubliche Trockenheit im Mund, wo jedes Essen gleich schmeckt und sich im Mund, im Rachen gleich anfühlt - nämlich wie Sägemehl. Scheiße. Habe ich gedacht. Scheiße wegen den Pickeln, denn die Haut war auf einmal trocken, hat gejuckt und es entstanden Pickel überall. Auf der Kopfhaut, der Brust, einige am Rücken, aber vor allem im Gesicht.

Scheiße. Das wird irgendeine Allergie sein. Ich rief in der Klinik an. "Kommen sie vorbei, der Arzt schaut sich das an". Und ich komme vorbei. Und ich sitze erst eine Stunde, bevor sie  mir sagen "das ist in unserer Praxis noch nie vorgekommen, hm-hm, was kann das sein, hm-hm, gehen sie auf die Hautklinik". Super. Hautklinik. "Warum sind sie hier", blöde Tussi an der Rezeption. Kein Hallo, kein "mit was kann ich ihnen behilflich sein", irgendwas nettes, normales. "Nicht weil es mir Spaß macht". Antworte ich, weil mir die Galle im Rachen hochkommt. Sie lächelt "Ich sitze auch nicht aus Spaß hier", meint sie. Ich lächele, dabei ist mir nicht danach. "Setzen sie sich"

Krankenpfleger in Blau: "Und das soll ich jetzt aussprechen?" - ich weiß schon, das bin ich, mein Name, immer das gleiche. Dabei bin ich die einzige Patientin im Warteraum, also könnte er sich das auch sparen. Irgendwann sitz ich endlich im richtigen Warteraum, dort wo hinter der Tür die Hautärztin ist. Eine Stunde lang sitze ich dort. Vor mir nur eine Patientin mit ihrem Begleiter. Sie sprechen über die Jugend "Und den ganzen Weg hat er mit seinem Handy gespielt. Die Mädls auch, ja-ja, aber die haben auch mal mit mir gesprochen, was sie alles in Wien gesehen haben. Man sieht schon, dass der Bub eingeschränkt ist." Der Begleiter antwortet nichts und die Frau mit dem Verband an der rechten Hand spricht weiter. Ich kann mich nicht auf mein Buch konzentrieren. Maglya - ich kenne das Wort nicht auf Deutsch, von Dragoman György. Hat mir meine Freundin geschenkt. Jetzt vor einer Woche. Dabei überkommt mich eine plötzliche Müdigkeit. Die Stühle sind zu klein, ich bin zu müde.

 "Frau Cz. kommen sie bitte", kommt die Ärztin zehn Minuten nachdem die Frau mit dem Verband schon gegangen ist. In zehn Minuten bin ich fertig, davon hat sie mich fünf Minuten über mein Buch ausgefragt. Maglya - ich kenne das Wort nicht auf Deutsch, dieses Ding, wo man im Mittelalter die Hexen verbrannt hat. Der Medizinstudent neben ihr sagt "Scheiterhaufen", genau, Scheiterhaufen. Ein ernstes Buch. Ja und nein. Ich könnte eigentlich Stunden über Bücher reden. Wie blöd, dass sie sich mehr für mein Buch als für meine Haut interessiert. Dabei fühle ich, dass meine Haut unter dem Make-Up explodiert. Die Ärztin verschreibt mir zwei Cremes und ich gehe aus der Tür und verstecke mich zuhause. Heute gehe ich nirgends. Ich sitze im neuen Sessel, den wir mit C. im Sperrmüll gefunden haben und denke daran, dass die Pickel schnell weggehen. Eine Glatze und Pickel, das wäre jetzt echt blöd.
  

Sonntag, 26. Oktober 2014

Drei Tage

Ich verstehe auch andere Dinge nicht und rege mich nicht auf, weil ich sie nicht verstehe. Warum würde ich jetzt eine Ausnahme machen? Es ist nur etwas mehr, dass ich nicht verstehe und das ich nicht beeinflussen kann. Obwohl, über letzteres, bzw. das Gegenteil, versuchen mich Freunde, Bekannte und Familie zu überzeugen. Und ich lebe mein Leben weiter, wie bisher. Einen Film, der mit anderen passiert und nicht mit mir.

   
Die Entdeckung- Tag 1    
Copyright: Heike/pixelio.de
Die Geschichte fängt mit einem Kratzer an. Jetzt im September, wo es einmal heiß war habe ich mich unter der Achsel gekratzt, währenddessen ich mit einem Kollegen diskutierte. Und hopp, diskutierte mein Kollege plötzlich alleine. Denn ich fühlte etwas rundes und hartes in meiner Brust und es überkam mich eine sofortige Todesangst und ich brauchte einige Minuten um mich zu fassen. Ich hatte das Gefühl in dieser Angst ist auf einmal all mein Blut in mein Gehirn und mein Herz geschoßen und fühlte eine Urpanik, wie ich sie fühle, wenn ich an das Weltall denke oder mir Sterne zu lange ansehe. Fünf Minuten später half meine Atemübung und ich konnte wieder zuhören. Mein Gesprächspartner überbrückte die Debatte alleine und bemerkte von meinem Schwächeanfall überhaupt nichts. Soviel über die zwischenmenschliche Kommunikation.

Die Medien haben mich gut trainiert. Man sollte sofort zum Arzt gehen, wenn man etwas komisches in der Brust spürt. Ich bin 27 und im Internet fand ich gleich eine beruhigende Antwort auf den Knoten: Verklumptes Fettgewebe. Unter dreißig ist Brustkrebs sehr selten. Auch meine Freunde beruhigten mich. Ich ging zur Hausärztin, da mein Frauenarzt zu der Zeit gerade auf Urlaub war, ob sie glaubt, dass das ein Knoten ist oder ich mir das nur einbilde.
Sie wärmte ihre Handflächen auf indem sie sie zueinander rieb und schaute links hinter mein Ohr, während sie mir die Brust abtastete. Sie hatte eine weiche Hand. Man sah in ihrem Gesicht nichts. Aber sie schickte mich zur Brustambulanz, denn da war wirklich ein Knoten.Und zwar sofort nächsten Tag sollte ich gehen.



Die Untersuchung - Tag 2
Ich war mittlerweile schon komplett beruhigt. Statistiken, Freunde, alles schien auf meiner Seite zu stehen. Ich sagte das ganze mit dem Knoten eigentlich nur zwei Freunde. Das half auch. Dann fragten nicht so viele, wie es mir denn ging. Die Einweisung auf die Brustambulanz nahm ich, wie eine Überreaktion, eine Art Sicherstellung, dass alles in Ordnung ist.

Der Radiologe, ein kleiner Mann die ärztliche Version von Homer Simpson im weißen Kittel, war barsch. Ich musste ausgezogen in einem blauen Kittel warten, dann nur in Strumpfhose mit dem linken arm über meinem Kopf in einem winzigen, halbverdunkelten Raum mit einer Ultraschallmaschine zusammen liegen. Dann kam endlich Homer und hatte eine kalte Hand. Er schmierte dieses komische Gel auf meine linke Brust und fuhr mit dem Ultraschallkopf hin und her. Drückte den Knoten auf die eine Seite, auf die andere Seite und dann fest hinein. Er brabbelte verstörend. Es nervte mich unglaublich. Gesagt hat er dann nur: "Wischen sie sich ab, wir werden eine Biopsie nehmen um ganz sicher zu stellen, dass der Knoten gutartig ist." Gut. Kittel an. Ich wieder am Flur sitzend. Komisch. Sie machen nicht einmal eine Mammographie, fragte ich mich. Obwohl mir die Hausärztin alles gut erklärt hatte, damit ich mich nicht wundere, wie es so in der Brustambulanz abläuft.

"Frau Cz. kommen sie, bitte" - nach 15 Minuten kam die nette, blonde Krankenschwester lächelnd in den Warteraum. Jetzt ging ich in einen helleren Raum, aber liegen musste ich gleich. Linker Arm ganz weit nach oben. Kissen unter meinen Rücken, auf der Seite liegen, mit nacktem Oberkörper. Der Arzt ließ wieder auf sich warten. 10 Minuten lag ich so, fror und sah die Neonröhren an der Decke an. Ich redete mir ein, das alles passiert außerhalb meines Körpers. Mir kam beinahe vor, ich könnte mich von außen sehen. Komisch.

Endlich kam der Arzt, mit einer Stanze, die mich an gefüllte Puten erinnert. Mit einer solchen langen Stanze stecht man sie durch um sie von vorne bis hinten zusammen zu halten. Auch die Methode war ähnlich. Nach einer Betäubungsspritze und dem Ultraschallkopf in einer Tüte an meiner Brust kam die Stanze hinein. Der Arzt suchte den Knoten. Ich sah ihn auf dem Bildschirm. Wie eine zermatschte Bohne sah er aus. Sechsmal stach er mit der Stanze in meine Brust. Nur am Ende sah ich, wieviel ich geblutet hatte und wie lange die Stanze in Wirklichkeit war. Ich fand es interessant. Dann sagte mir die Krankenschwester, während sie meine Wunde zuband, dass ich morgen zur Befundbesprechung mit jemandem kommen sollte, den ich gerne hab. Bingo, sagte ich, denn wir hatten mit meinem langjährigen Freund besprochen, dass wir eine Pause machen, um zu sehen in welche Richtung unsere Beziehung gehen wird. Fünf Jahre miteinander durch dick und dünn und seit einer Woche kein Kontakt mehr. Bedenkzeit. Ich glaubte langsam auf den Geschmack zu kommen, was ich in Wirklichkeit will. Und dann sagt mir die Krankenschwester das was sie sagt und der einzige Mensch, den ich in diesem Moment neben mir haben will, ist er. Die Krankenschwester sagte: Sie haben doch sicher einen Freund, eine Freundin, die Mutter, die Schwester, jemand der sie begleiten kann. Ich sah in die Neonröhre und eine Träne rollte mir auf der rechten Wange hinunter. Ich fühlte mich unglaublich verlassen.

Ich rufe ihn an, er hebt nicht ab. Wir haben besprochen, dass wir nicht miteinander sprechen. Ich schreibe ihm eine SMS und am Abend sitzt er bei mir in der Küche und alles ist ein bisschen komisch, aber ich bin sehr froh und dankbar, dass er bei mir ist.

Der Befund - Tag 3
Ich gehe ganz normal in die Arbeit und versuche den Arzttermin zwischen zwei andere Termine zu quetschen. Es ist perfekt, denn ich mache ein Interview in der Innenstadt und danach kann ich schnell ins Krankenhaus laufen, bevor ich wieder ins Büro zurück muss.

Vor der Klinik wartet schon mein Freund um 2 Uhr auf mich. Er sieht aufgeregter aus, als ich. Ich bin mir sicher alles passt mit den Befunden. Bei mir passt immer alles. Egal ob Blut oder Harn - das Labor sagt immer, alles ist perfekt. Und ich fühle mich fitter und glücklicher denn je. Weil ich die Dinge geklärt habe, weil ich mit meiner Familie, mit meinem Freund viele Gespräche über unsere Beziehungen miteinander geführt habe und ich alles sagen konnte, was mich belastete. Nüchtern und schön. Und manchmal auch schreiend und weinend. Aber letzen Endes immer nüchtern und schön und liebevoll.
Homer Simpson in Weiß huscht an uns vorbei. Er sieht immer nervös aus. Kann ich sagen, da ich ihn jetzt schon den zweiten Tag sehe. "Ganz gleich", sagt er - eher zur automatischen Tür, die ihn schluckt, als zu uns.

Dann sitzen wir in einem kleinen Raum ohne Fenster. Ein Kalender von Knorr hängt an der Wand. Kartoffelauflauf im September. Das Licht ist kalt. Neon. Wieder warten auf den Radiologen. Er kommt rein, Grüß Gott, setzt sich vor den Computer, zieht die Brille aus und dreht sich zu uns. Ich muss ihnen leider sagen, dass der Tumor bösartig ist. Punkt. Kein Kommentar. Ich sehe ihn an, ich sehe meinen Freund an. Er hat Tränen in den Augen. Auf einmal bekomme ich keine Luft. Warum ist in diesem scheiß Raum kein Fenster? Und? Frage ich? Sterbe ich gleich, kann ich gesund werden, sind sie sich sicher, ich fühle mich doch sooooo gesund. Sie sehen wie das blühende Leben aus, aber auch dann kann man Krebs haben. Sagt der Arzt. Ich will noch so vieles machen, sage ich. Denn ich denke daran, jetzt bin gleich tot, mein Roman ist nie fertiggeworden, ich war nie wirklich in Rom (habe zwei Tage vorher "La grande Bellezza" gesehen) und habe noch keine Kinder bekommen. Und ich wollte doch immer eine Oma werden. Ich beuge mich auf meine Knie. Vielleicht ist dort mehr Luft, ich komme wieder zurück und greife mir in die Haare. Der weiße Homer sitzt unbeeinflusst dort. Erklärt. Sie gehen jetzt in den zweiten Stock, blablabla. Mein Freund fließen die Tränen, ich weine nicht. Es ist einfach nur unfassbar. Dann kommt eine Krankenschwester, die uns zur Blutabnahme begleitet. Die andere Krankenschwester saugt Blut aus mir, ich werde angezapft, denke ich. Ich werde sterben und fange an zu weinen. Die Krankenschwester schaut mich überrascht an. Schlechte Nachrichten? Ich nicke und weine und lächele. Warum will ich immer tapfer bleiben? Wann hat man mir das beigebracht? Warum einfach nicht mal wütend sein und weinen? Wann, wenn nicht jetzt? Aber ich bleibe tapfer und meine Tränen laufen in mein Lächeln hinein. Mein Mund schmeckt gleichzeitig salzig und süß und trocken. Bestimmt ist es wegen den vielen Indianergeschichten, wegen Lederstrumpf, weil ich immer ein Indianer sein wollte. Flink, stark, mutig, unzerstörbar.

Der zweite Arzt war hübsch. Zum Glück war er auch nett und verständnisvoll. Er hat Augen, wie ich. Außen grün, Innen braun. Er schaute mir nicht nur ins Gesicht, er sah auch meine Angst. Er beruhigte mich. Der Knoten ist klein, sie sind jung, ihre Heilungschancen sind sehr gut. Und schon machte einen Termin. Ist ihnen der 16. September recht? Ich hatte das Gefühl, überrumpelt zu sein. Sicher, ist es mir recht. Mir ist alles recht. Gestern hatte ich noch kein Krebs. Und als ich das dachte, wusste ich das es nicht stimmte und ich doch recht hatte.

Dienstag, 4. März 2014

Roll mit mir - Rikscha in Budapest

Es gibt diese Abende, an die man sich so halbwegs zurückerinnert und sie später als "besonders interessant" einstuft und sich ärgert, warum hat man nicht mehr Fotos gemacht, mehr mit jemandem gesprochen, einfach noch mehr miterlebt.
Letzter Montag war beinahe so ein Abend. Ein Abend zuhause, in Ungarn, acht Stunden mit dem Zug, ausgestiegen um neun im Ostbahnhof, wiedermal konstatiert, wie schön der Bahnhof ist und wie komisch, dass die Beleuchtung noch immer so orange-farbig ist, Bruder zum abholen schon bereit, sagt, was man hören will ("bist du hungrig?" --> natürlich) und man geht, mit dem Gepäck durch das Nachtleben der Stadt um in Ungarn Quesadilla zu essen und hausgemachtes Bier zu trinken.

Man weiß nicht genau, wo man ist, was man isst, aber alles schmeckt und macht Spaß, egal was man macht, weil alles hat gefehlt, vielleicht hat man es gar nicht gemerkt. Die Sprache, die Stadt, das Unperfekte, das Unberechenbare das damit verbunden ist und das man jetzt schnell noch einmal gut hinsieht, weil man wieder für viele Monate nicht kommen wird.
Man geht auf der Straße, der Bruder hält bei einem Typ, der ein "Hausmeister" (3 dl Wein + 2 dl Soda) aus Roséwein vor einer überfüllten Bar trinkt, in der zwei Gitarristen jammen. Es fällt der Woody Allen-Film ein - Midnight in Paris - weil man von einem tollen Platz in den anderen fällt, aber man ist müde, möchte doch schon schlafen gehen und nach fünf Minuten Smalltalk beeilt man den Bruder zum gehen. Der Bekannte meint, er könnte uns bis zur Hauptstrasse mitnehmen und ich denk mir, für was (?) es ist ja gleich hier zwei Strassen, aber dann schiebt dieser schon eine Rikscha hervor. Der Bekannte selbst schon eine Erscheinung, eine Mischung aus Hippie und Lebenskünstler, beschert uns mit Geschichten und ich bin total aus dem Häuschen, habe das - also Rikschas - in Budapest noch nie erlebt und dieser Typ lebt seit Jahren nur für diese Sache. Er erzählt ein bisschen, aber es gibt nicht viel Zeit, ich sage, am Samstag soll er zur Party kommen und ich mache davor ein Interview mit ihm und schicke es hier zu den Zeitungen oder mache wenigstens einen Eintrag in meinem Blog.

Aber mache ich am Ende nicht, weil: eins, der Enthusiasmus fehlt dann schon; zwei, ich einen unglaublich fiesen Virus erwischt habe, der mich für fünf Tage derart niedergeschmettert hat, dass ich nicht wusste ob ich lebe oder sterbe.

So ein Abend war das mal wieder, einer von dem man nicht ganz sicher weiß ob er passiert ist oder nicht, ob es wirklich diesen Kurzhaar-Rasta-Typ gab, mit den langsamen Bewegungen und der langsamen, gezogenen Sprache in seinem Mund, mit dem Gesicht, dass sich ständig umgewendet hat um was zu sagen, mit dem pedallieren, mit den blinkenden Lichtern, mit der Nacht in der Stadt und mit mir. Aber Bilder lügen nicht - siehe da, der Typ hatte einen Bart! -  und vielleicht mach' ich ja mal einen gescheiten Artikel aus der Sache.