Donnerstag, 30. Oktober 2014

Das letzte Mal

"Damit du das letzte Mal deine Haare mit deinem Lieblingsshampoo waschen kannst" – C. in der Tür mit einem Shampoo das nach frischgepresstem Apfelsaft riecht. Stimmt, das ist mein Lieblingsshampoo, aber nur seit kurzem, weil ich es erst vor einem Monat entdeckt habe.

Es sind nur Haare. Für mich sind es nur Haare. C. bekommt Tränen als er den Zopf in der Hand hält. Er will ihn nicht abschneiden, aber sie fangen schon an rauszufallen und ich will nicht Haare in jedem Körperwinkel kleben haben. Ich stelle schnell noch den Kartoffelauflauf in den Ofen, bereite einen Grüntee und laufe duschen.

Erst die Schamhaare fingen an auszufallen. Auch beim duschen. Je länger ich unter Wasser war, desdo mehr. Eklig. Komisch. Jetzt fließen sie in den Kanal. Vielleicht verstopfen sie irgendwann die Rohre. Danach habe ich mich nicht getraut mir die Haare am Kopf anzufassen, meinen Zopf zu öffnen, mich zu kratzen oder zu kämmen. Die Paar langen, herausgefallenen Haare klebten fest unter meinen Fingernägeln und kitzelten meinen Nacken.

© *Clam*/pixelio.de
Also ich sitze im Badezimmer und will es dramatisch machen. Ich denke an Prokofiev oder Rachmaninov als Hintergrundmusik. C. empfiehlt Carmina Burana von Carl Orff. Ich bin dabei, ziehe ein weißes Hemd aus dem Wäschekübel, setze mich auf den Stuhl und will das meine Haare mit dem Rasierapparat einfach abfallen. Wie die Blätter vom Baum bei Föhn. Passt eigentlich eh zum Herbst, bin nun ein Teil der Natur. C. setzt den Helm auf, die Kamera schaltet ein. "Bist du sicher? Willst du nicht noch ein Paar Tage warten?" Nein, sicher. Ich weiß, er sagt es, weil die Pickel noch immer mein Gesicht verunstalten und er bangt, dass es mir dann noch schlimmer geht. Aber wie gesagt, Haare sind mir egal. Die tun nicht weh, die explodieren nicht ständig, die sind zahm. Ohnehin hängt am Spiegel ein Küchentuch um mich nicht ständig selbst zu erschrecken. Mein Gesicht ist zwar viel entspannter geworden, die Pickel deformieren nicht mehr mein ganzes Antlitz, aber schön ist was anderes.  Ich gehe noch immer nicht außer Haus.

Er schaltet Carmina Burana ein, dann die Haarschneidemaschine. Es passiert nichts, die Maschine sümmt sehr leise und ich schaue nach hinten, was ist los. Sie ist einfach kaputt, es bleibt nur die Schere. C. greift meinen Schopf, so viele Haare wie möglich zusammen und schneidet. Er schneidet sie durch, hält sie so, wie ein Huhn, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. "Nicht ziehen", kreische ich. "Entschuldigung", seine Stimme ist ganz sanft. Auf einmal spüre ich, dass mein Kopf viel leichter geworden ist. "Freedom" fällt mir ein, auf Englisch. Warum gerade auf Englisch. Carmina Burana geht langsam zu Ende. Es ist ein fünfminütiger Track auf Youtube. Schade. Ich schaue mich im Spiegel an und muss lachen, dann lachen wir zu zweit und er schneidet mir die Haare noch ein bisschen. Die langen, abgeschnittenen Haare hält C. mit einem rosa Haargummi zusammen und hängt ihn an den Spiegel. Das Haar sieht aus, wie ein Skalp und ich wie Jean d'Arc, nachdem sie die Pocken hatte. Ich dusche mich noch einmal und esse danach den Kartoffelauflauf. Zwischen den dünngeschnittenen Kartoffelscheiben, sehe ich auf einmal etwas braunes, dünnes, langes. Ich nehme es zwischen zwei Finger und fange an zu ziehen – mein Haar, "das gestern auf meinem Kopf heute Skalp"-Haar mit Schlagobers und Parmesan. Es macht mich nachdenklich, denn ich finde wirklich selten mein eigenes Haar im Essen. Sowas hat mich nie geekelt, aber jetzt schon. Als ob es ein gemeiner Spaß vom Schicksal wäre. Ich schmeiße das Haar, samt Parmesan in den Müll. Das letzte Mal, für lange Zeit.

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