Montag, 17. August 2015

Gurkenglas

Vielleicht ist es, weil ich Essiggurken so gerne esse. Vielleicht ist es, weil ich als Kind so viel Fußball gespielt habe. Vielleicht ist es, weil meine Mutter Salat nach Tschernobyl gegessen hat. Vielleicht ist es, weil ich viel grünen Tee getrunken habe. Oder viel ungarische Salami gegessen. Oder viel Paprika. Oder viel Zwiebel. Manchmal macht es mich verrückt. Wenn jemand erzählt, dass Gurkengläser durchstrahlt werden, vor dem die Essiggurken hineinkommen. Bei allen? Bei allen. Damit keine Rückstände einem die Kehle von Innen zerschneiden: Nur so sieht man die kleinen Glassplitter. Manchmal ist die Strahlung zu hoch. Es piepst laut. Scheiße – bis man es bemerkt, sind dreihundert Gurkengläser schon am Markt. Ich liebe Essiggurken. Ich esse mindestens fünf Kilo pro Jahr. Ich will nicht daran denken, dass die Essiggurken daran schuld sein könnten, dass ich Krebs hatte. Oder meine Mutter, weil sie 1986 grünen Salat zu den Käsenockerln gegessen hat und mit mir schwanger war. Oder dass einer dieser wilden Jungs schuld ist, der mir den Fußball in die Brust geschossen hat. Ich habe keine Luft bekommen, so heftig war der Schuss. Heute bekomme ich keine Luft, wenn ich an den Krebs denke. Er ist außerirdisch, weil ich nicht weiß, wo und was ich ändern könnte, damit er nicht zurückkommt. Und ich weiß nicht, wo er wohnt und wo er sich wohlfühlt – damit ich ihm es so ungemütlich, wie möglich in mir machen könnte. Sollte ich keine Essiggurken mehr aus dem Geschäft essen? Oder keine Pilze aus dem Wald? Oder keine Fische aus dem Mittelmeer? Ich habe das Gefühl, ich habe mit der Diagnose meine Unsterblichkeit verloren. Mit der ich jedoch noch mindesten sechzig Jahre gezählt hatte.