Mittwoch, 13. Januar 2016

Im Badezimmer

Meine Schwester und ich stehen vor dem Badezimmerspiegel. Das ist nicht eine tägliche Situation. Sie in Norwegen, ich in Österreich. Sie mit drei Kinder, ich mit einem Vollzeitjob. Sie schaut, ob sie seit der Geburt schon abgenommen hat, ich, ob mir seit der Chemo noch ein Paar Augenbrauenhärchen ausgewachsen sind. Im Bad sind wir zwei immer am meisten "wir" und am meisten allein. Kein anderer darf unseren nackten Körper so ungeblümt sehen. Es ist das Gefühl der Heimat, denn wir müssen nicht an der Badezimmertür klopfen, nicht beim Duschen erschreken und vor allem können wir dann sehr viel lachen und alles hallt. Ich liebe meine Schwester sehr. Sie sagr mir, sie hätte sich nicht getraut – so wie ich – mit einer Glatze im Restaurant zu sitzen. "Ich bin zu eitel", sagte sie. Zum Glück war ich diejenige mit der Glatze, denn ich bin exzentrisch und nicht so eitel. Dann habe ich, als wir beide schon schlafen gegangen waren, nachgedacht, dass es nicht nur mein Exzentrismus war. Je mehr Chemos ich bekam, desdo weniger fühlte ich mich, wie ein Mensch. Eher wie eine komische Kreatur. Keine Person, die sich in der Früh in den Spiegel schaut und die schlechte Nacht aus dem Gesicht zu glätten versucht. Wie ein Tier habe ich nur versucht zu essen, zu trinken, zu schlafen, eben die Basisbedürfnisse zu lindern. Was ich anhatte, wer mich ansah, wer was über mich dachte, das interessierte mich wirklich nur selten. Wenn es mich interessierte, sah ich – voller Wehmut – alte Fotos von mir selbst an, wie von einer Toten, die man mächtig vermisst. Ein Jahr und eine Prise lang hat es gedauert, bis ich wieder in den Spiegel schauen konnte, dass ich in der Früh mein Gesicht zu glätten versuche, meine Haare in Schuß zu bringen und mein Leben zu leben, wie ich es vor meinem ungewollten "Sabbatical-Jahr" getan habe.