Immer ist es das gleiche. Mit oder ohne Fasten. Die ersten Tage nach der Chemo geht's gut und dann fällt alles auseinander. Dann sehe ich meinen Körper, wie aus dem All, dann fühle ich meine Nägel, wie angeklebt, dann bleibe ich mit den restlichen Stoppeln im Kissen hängen. Ich bewege meine Beine, meine Arme, aber sie sind immer ungemütlich, unpassend. Sie sind heiß oder kalt, sie sind steif oder zu weich. Meine Augen als ob sie auch von jemand anderem wären. Meine Hände, als ob sie von ganz weit kommen würden, bis ich mit ihnen mein Gesicht, meine Knie, meine Füße anfasse.
Wie der Brief von meiner Tante. Wer schreibt schon Briefe, heute. Seitdem ich Krebs habe, ist das nun der zweite Brief von ihr. Mit richtigen Wörtern, Buchstaben, Unterschrift. Nicht eine Postkarte. Nicht schön oder zierlich. Einfach nur ein Brief. Hat mir gestern der Postmann gegeben. In die Hand. Er hat zweimal geklopft, so stark an der Tür, dass ich aufstehen musste und öffnen. Sonst fällt er noch samt Tür ins Haus. Vier Briefe. Greenpeace, Tilak, Ärzte ohne Grenzen und das von meiner Tante. Sie hat eine schöne Schrift. Sie ist ein bisschen verrückt und deswegen wundert es mich, wie schön und geregelt ihre Schrift ist. Sie zittert auch stark, aber das merkt man an den Buchstaben kaum. Ich habe auch viele Briefe geschrieben, einige habe ich auch bekommen. Vor allem von meiner Schwester. Als es noch kein Internet gab und das Telefonieren teuer war. Die habe ich noch immer. Ich wahre sie in Bonbonschachteln auf, sie sind im Schrank bei meinem Vater. Und wenn ich ab und zu nach Ungarn fahre, mache ich die Schachteln auf und lese die Briefe bis weit nach Mitternacht und bin den nächsten Tag müde.
Ich liege also im Bett mit den vier Briefen. Ich lasse Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen einfach auf C.-s Betthälfte liegen und öffne den kleinen, weißen Umschlag. Ein A4-Blatt in Hälfte gefaltet, dann quer drauf losgeschrieben. Kedves A. – Liebe A. mit Diminutiv. Und große, luftige Zeilen, in fünf Minuten ist das ganze gelesen. Ein so großer Aufwand. Briefumschlag besorgen, auf die Post gehen, in der Schlange stehen und in einer Woche bekomme ich die Paar Zeilen. Wir sprechen kaum mit meiner Tante. Sie lebt in Ungarn, in meinem Heimatort und dorthin fahre ich kaum mehr, seitdem die Oma tot ist. Eigentlich ist ja immer alles beim Alten. Nur, dass sie (meine Tante und mein Onkel) auch von Jahr zu Jahr älter werden, weniger oder mehr essen, das Bad renovieren und sich nach ihren Kindern sehnen, die im Ausland oder in einer anderen Stadt leben. Dann sprechen wir ab und zu an meinem Geburtstag.
Meine Tante schreibt über ihre Kinder. Der kurze Brief macht mich zutiefst traurig. Mit meiner Cousine und meinem Cousin habe ich schon seit Jahren nicht gesprochen. Meine Cousine hat lange in Dänemark studiert und lebt nun mit ihrem Freund seit vielen Jahren dort. Sie muss jetzt um die 33 Jahre alt sein. Sie arbeitet in einem Lager und sortiert Ersatzteile (die übrigens in Ungarn hergestellt wurden). Ihr Freund ist "Mädchen für Alles" bei einer Familie, versorgt die kranke Mutter, füttert die Tiere am Bauernhof. Meine Tante schreibt: Sie sind mit ihrem Lohn zufrieden, aber wollen natürlich nicht von hier in die Pension gehen. Scheiße, denke ich mir nur und irgendwie erdrückt mich die ganze Misere. Die vielen Kinder, die mit ihrem Diplom in den Westen gehen, ihre Eltern verlassen und dann doch nicht Fuß fassen können. Es drückt schwer auf meiner Lunge und meinen Augen. Als ob ich diese Misere hätte. Als ob das auch mit mir in jedem Moment passieren könnte. Wusch, der Teppich weg unter meinen Füßen. Eine Krankheit, etwas das dich aus dem Konzept bringt. Das Leben ist ja nur ein Kartenhaus. Ich lege den Brief zu den anderen auf C.-s Betthälfte und denke an die letzte Zeile, die meine Tante geschrieben hat. "Wir haben keine Berge, aber wenn Ihr die Möglichkeit habt, sehen wir euch gerne." Ich bleibe aber liegen und glaube, dass alles zu vergänglich und skurril ist.
ungarn meets tirol: knödel with fishsoup, pálinka with zirbenschnaps, skiing on paprika powder.
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Dienstag, 2. Dezember 2014
Donnerstag, 30. Oktober 2014
Das letzte Mal
"Damit du das letzte Mal deine Haare mit deinem Lieblingsshampoo waschen kannst" – C. in der Tür mit einem Shampoo das nach frischgepresstem Apfelsaft riecht. Stimmt, das ist mein Lieblingsshampoo, aber nur seit kurzem, weil ich es erst vor einem Monat entdeckt habe.
Es sind nur Haare. Für mich sind es nur Haare. C. bekommt Tränen als er den Zopf in der Hand hält. Er will ihn nicht abschneiden, aber sie fangen schon an rauszufallen und ich will nicht Haare in jedem Körperwinkel kleben haben. Ich stelle schnell noch den Kartoffelauflauf in den Ofen, bereite einen Grüntee und laufe duschen.
Erst die Schamhaare fingen an auszufallen. Auch beim duschen. Je länger ich unter Wasser war, desdo mehr. Eklig. Komisch. Jetzt fließen sie in den Kanal. Vielleicht verstopfen sie irgendwann die Rohre. Danach habe ich mich nicht getraut mir die Haare am Kopf anzufassen, meinen Zopf zu öffnen, mich zu kratzen oder zu kämmen. Die Paar langen, herausgefallenen Haare klebten fest unter meinen Fingernägeln und kitzelten meinen Nacken.
Also ich sitze im Badezimmer und will es dramatisch machen. Ich denke an Prokofiev oder Rachmaninov als Hintergrundmusik. C. empfiehlt Carmina Burana von Carl Orff. Ich bin dabei, ziehe ein weißes Hemd aus dem Wäschekübel, setze mich auf den Stuhl und will das meine Haare mit dem Rasierapparat einfach abfallen. Wie die Blätter vom Baum bei Föhn. Passt eigentlich eh zum Herbst, bin nun ein Teil der Natur. C. setzt den Helm auf, die Kamera schaltet ein. "Bist du sicher? Willst du nicht noch ein Paar Tage warten?" Nein, sicher. Ich weiß, er sagt es, weil die Pickel noch immer mein Gesicht verunstalten und er bangt, dass es mir dann noch schlimmer geht. Aber wie gesagt, Haare sind mir egal. Die tun nicht weh, die explodieren nicht ständig, die sind zahm. Ohnehin hängt am Spiegel ein Küchentuch um mich nicht ständig selbst zu erschrecken. Mein
Gesicht ist zwar viel entspannter geworden, die Pickel deformieren nicht
mehr mein ganzes Antlitz, aber schön ist was anderes. Ich gehe noch
immer nicht außer Haus.
Er schaltet Carmina Burana ein, dann die Haarschneidemaschine. Es passiert nichts, die Maschine sümmt sehr leise und ich schaue nach hinten, was ist los. Sie ist einfach kaputt, es bleibt nur die Schere. C. greift meinen Schopf, so viele Haare wie möglich zusammen und schneidet. Er schneidet sie durch, hält sie so, wie ein Huhn, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. "Nicht ziehen", kreische ich. "Entschuldigung", seine Stimme ist ganz sanft. Auf einmal spüre ich, dass mein Kopf viel leichter geworden ist. "Freedom" fällt mir ein, auf Englisch. Warum gerade auf Englisch. Carmina Burana geht langsam zu Ende. Es ist ein fünfminütiger Track auf Youtube. Schade. Ich schaue mich im Spiegel an und muss lachen, dann lachen wir zu zweit und er schneidet mir die Haare noch ein bisschen. Die langen, abgeschnittenen Haare hält C. mit einem rosa Haargummi zusammen und hängt ihn an den Spiegel. Das Haar sieht aus, wie ein Skalp und ich wie Jean d'Arc, nachdem sie die Pocken hatte. Ich dusche mich noch einmal und esse danach den Kartoffelauflauf. Zwischen den dünngeschnittenen Kartoffelscheiben, sehe ich auf einmal etwas braunes, dünnes, langes. Ich nehme es zwischen zwei Finger und fange an zu ziehen – mein Haar, "das gestern auf meinem Kopf heute Skalp"-Haar mit Schlagobers und Parmesan. Es macht mich nachdenklich, denn ich finde wirklich selten mein eigenes Haar im Essen. Sowas hat mich nie geekelt, aber jetzt schon. Als ob es ein gemeiner Spaß vom Schicksal wäre. Ich schmeiße das Haar, samt Parmesan in den Müll. Das letzte Mal, für lange Zeit.
Es sind nur Haare. Für mich sind es nur Haare. C. bekommt Tränen als er den Zopf in der Hand hält. Er will ihn nicht abschneiden, aber sie fangen schon an rauszufallen und ich will nicht Haare in jedem Körperwinkel kleben haben. Ich stelle schnell noch den Kartoffelauflauf in den Ofen, bereite einen Grüntee und laufe duschen.
Erst die Schamhaare fingen an auszufallen. Auch beim duschen. Je länger ich unter Wasser war, desdo mehr. Eklig. Komisch. Jetzt fließen sie in den Kanal. Vielleicht verstopfen sie irgendwann die Rohre. Danach habe ich mich nicht getraut mir die Haare am Kopf anzufassen, meinen Zopf zu öffnen, mich zu kratzen oder zu kämmen. Die Paar langen, herausgefallenen Haare klebten fest unter meinen Fingernägeln und kitzelten meinen Nacken.
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© *Clam*/pixelio.de |
Er schaltet Carmina Burana ein, dann die Haarschneidemaschine. Es passiert nichts, die Maschine sümmt sehr leise und ich schaue nach hinten, was ist los. Sie ist einfach kaputt, es bleibt nur die Schere. C. greift meinen Schopf, so viele Haare wie möglich zusammen und schneidet. Er schneidet sie durch, hält sie so, wie ein Huhn, wenn man ihm die Kehle durchschneidet. "Nicht ziehen", kreische ich. "Entschuldigung", seine Stimme ist ganz sanft. Auf einmal spüre ich, dass mein Kopf viel leichter geworden ist. "Freedom" fällt mir ein, auf Englisch. Warum gerade auf Englisch. Carmina Burana geht langsam zu Ende. Es ist ein fünfminütiger Track auf Youtube. Schade. Ich schaue mich im Spiegel an und muss lachen, dann lachen wir zu zweit und er schneidet mir die Haare noch ein bisschen. Die langen, abgeschnittenen Haare hält C. mit einem rosa Haargummi zusammen und hängt ihn an den Spiegel. Das Haar sieht aus, wie ein Skalp und ich wie Jean d'Arc, nachdem sie die Pocken hatte. Ich dusche mich noch einmal und esse danach den Kartoffelauflauf. Zwischen den dünngeschnittenen Kartoffelscheiben, sehe ich auf einmal etwas braunes, dünnes, langes. Ich nehme es zwischen zwei Finger und fange an zu ziehen – mein Haar, "das gestern auf meinem Kopf heute Skalp"-Haar mit Schlagobers und Parmesan. Es macht mich nachdenklich, denn ich finde wirklich selten mein eigenes Haar im Essen. Sowas hat mich nie geekelt, aber jetzt schon. Als ob es ein gemeiner Spaß vom Schicksal wäre. Ich schmeiße das Haar, samt Parmesan in den Müll. Das letzte Mal, für lange Zeit.
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