Freitag, 17. Juni 2011

Wenn die Sonne zum Dieb wird


Es schien einfach aussichtslos zu sein. Sie konnte sich nicht an das Leben in der Stadt gewöhnen. Der Verkehrslärm, die Taubenherden, die Menschen auf der Straße, Pissflecken unterschiedlichster Umrisse. Das war einfach nicht ihre Welt. Nach jedem Spaziergang wollte sie ihre Schuhe wegschmeißen, ihre Lunge austauschen, ihre Augen in kaltes Wasser legen. Sie war erschöpft von all diesem neuen Abscheu.
Ganz anders hat sie sich die Uni vorgestellt. Es war irgendwie nicht aufregend, freundschaftlich und hektisch genug. Verstehen hat sie die Lehrer auch nicht. Die Vorträge waren zu theoretisch. Sie fand in ihnen nichts was sie auf ihr Leben bezüglich nutzen konnte. Ihre Probleme waren von einer ganz anderen Art: Wie das Geld einteilen, welchen Bus nehmen, wo joggen gehen.
Ihr fehlte all das, was Zuhause selbstverständlich war und ohne großen Aufwand zugänglich. Der Garten, die Freunde, der volle Kühlschrank, der See. Hier musste man für alles bezahlen und ihr floss das Geld durch die Hände als ob es Sand wäre. Sie dachte daran, wo die vielen Scheine wohl sind: In das Brot, die Bustickets, den billigen Rouge und die Schokoladen hätten sie sich verwandelt?
Ihre düsteren Gedanken vertrieben die frohen Studenten um ihr herum und sie hatte keine Lust ihnen nach zu rennen um zu beweisen, dass sie in Wirklichkeit eine ganz andere Person ist. Eine die liebt Bücher, Klimt, Kaffee trinken, Witze erzählen, ins Kino gehen ... Sie sehnte sich so sehr nach sich selbst. Ihrem echten selbst, den sie mochte.
Das Industriegebiet in dem sie lebte fand sie zwar interessant, aber hatte Angst es alleine zu entdecken. Dunkle Ecken, verlassene Gebäude, bellende Hunde. Zu zweit sieht man eher die historische Fassaden, kunstvoll verrostete Maschinen, mysteriöse Schatten. Ihre Mitbewohnerinnen konnte man auf nichts überreden. Sie waren langweilige und gestresste Architekturstudenten. Als Edit schlafen ging, waren sie noch am Hausaufgabenbasteln, als sie aufwachte, weinten sie über den zerstreuten Trümmern die sie vor Wut daraus machten. In etwas ganz anderes waren sie vertieft: materielles Wissen, gefühllose Karrierevorstellungen, maschinelles Benehmen. Keine Zeit für trostvolle Umarmungen, obwohl Edit es soeben gebraucht hätte.
Ihr starb über das Wochenende die Großmutter. Klar, sie war schon alt, aber trotzdem tot. Sie wollte dass ihr persönlicher Schmerz Vorrang vor der nächsten Klausur der Mitbewohnerinnen hat. Sie war wütend, dass die Mädchen nicht mal bemerkt haben, dass sie in der Ecke sitzt und über ihr Buch gebeugt weint.
Die letzten Erinnerungen kamen in ihr Gedächtnis. Die Großmutter war schon dreiundneunzig, eigentlich wieder wie ein Kind. Sie hatte sich verkühlt. Die Wangen waren Rosa, ihr Körper alt, die Adern zerstreut, alle Knochen standen draußen und die Haut hing herunter. Niemals sah sie die Oma nackt.
Nun musste die Großmutter ins Krankenhaus und sie wollte sich duschen. Dabei brauchte sie ihre Hilfe. Das dünne, farblose Nachthemd zog sie langsam über den zitternden Kopf. Sie hatte keine Brüste, keinen Scham, keine Haut. Der Körper war wie eine große Masse ohne bestimmten Umriss, ohne die Eigenschaften die sie bei dem Menschen kannte. Sie ähnelte eher etwas komischem, einem Denkmal oder einer irrsinnigen Skulptur. Liebevoll verblüfft rieb sie die Seife auf ihren kahlen Rücken und schmierte das Shampoo auf die Haare. Die Oma lachte langsam und stotternd, die Kraft schon lange verloren. Das sanfte Wasser und die schnellen Bewegungen unter ihrer Achsel kitzelten sie. Edit hatte Angst sie zu brechen. Als ob sie eine Porzellanvase waschen würde. Ganz vorsichtig wickelte sie die alte Frau in das Handtuch, half sogar beim Beinheben um aus dem Duschbecken auf den kalten, grünen Fließboden zu stehen. Jetzt föhnte sie die Haare, die warme Luft machte die Oma wieder müde. Edit musterte das vergreiste Gesicht. Sie sah neue Züge, eine andere, fast durchsichtig weiße Farbe und den Blick, der weit nach der kahlen Wand in ein unendliches Ziel hineinfloss. Nichts konnte man daraus lesen. Es war verschwommen, unklar, erschreckend. Edit wollte nicht, dass sich das Gesicht der Großmutter verändert!
In dem Zimmer wieder versuchte sie ein Gespräch mit ihr zu führen, aber es war mühsam. Die Erzählungen hatten kein Anfang, kein Ende. Die Großmutter stöberte in den Erinnerungen, riss die unterschiedlichsten Zeiten, Geschehen, zusammen. Krieg, Fehlgeburten, Liebhaber, Budapest, verstorbene Schwester, der Sohn, die Tochter, das Haus in dem sie geboren war. Edit küsste ihre Stirn beruhigend, hielt ihre zitternde Hand für ein paar Sekunden als ob sie darauf warten würde, dass die Oma aus diesem Delirium wieder aufwacht. Es geschah aber nichts, die alte Frau starrte weiter in die Ferne und bewegte die Lippen so langsam und schwer, als ob sie aus Metall wären. Edit fühlte sich so fern von ihr. Die Großmutter hatte um sich schon eine Welt, die sie nicht mehr verstehen konnte und ohne sich nochmals um zu drehen, trat Edit aus dem Zimmer.
 Sie kam einfach nicht mit dem Geld aus. Mit dem kalten Wetter musste sie mehr für die Miete bezahlen und außerdem gefiel es ihr nicht mit den Architekturstudentinnen zusammen zu wohnen.
Sie musste eine Lösung für ihre Geldprobleme finden und so begab sie sich nach der Vorlesung zu den anderen, die im Kreis standen, rauchten, gestikulierten, lachten. Ob sie ein freies Zimmer hätten. Ein Mädchen mit langen Haaren, grünen Augen, hektischen Bewegungen, und krumme Nägel meinte in ihrem Studentenzimmer gibt es zwei freie Betten. „Frag doch den Direktor“ – sagte es.
In ein paar Tagen war alles erledigt. Der Direktor erlaubte, dass sie einzieht. Sie konnte schon vor den Winterferien alle Kleider und Bücher an ihren Platz stellen. Sie hatte sogar Zeit ihre Bilder über das Bett zu hängen und aus dem Fenster über die Dächer von Budapest zu sehen. Sie war im neunten Stock und sie sah alles. Die Katze im Nachbarfenster, die Busse und Straßenbahnen, wie sie durch die Stadt wurmelten, ein Kran, der weit aus den Häusern herausstand, wie ein großer Vogel der auf Frösche jagt. Zum ersten Mal in der Stadt empfand sie einen ungewöhnlichen, milden Krampf in ihrer Brust.
Nach den Ferien zurück im Studentenheim begann das Leben richtig loszugehen. Die Mitbewohnerin, die mit den grünen Augen und krummen Nägeln, wurde auf einmal ein Stück des Alltages. Zusammen wachten sie auf, verspäteten sich in der Uni, gingen in die Kneipe und abends auf gratis Konzerte. Eines Nachmittags gingen sie in die Burg um den Sonnenuntergang anzuschauen. Zwei Flaschen Weißwein hatten sie dabei und ein wenig Schnaps: Das wird die Aussicht noch bunter machen.
Damals – auf den ersten Blick  - war die neue Freundin noch unsympathisch. Dora zog beim sprechen ihre Schultern hoch, der Nacken verschwand, sie kratzte ihre Haut an der Hand und wurde Quasimodo. Edit fragte sie warum sie das macht. „Ich habe zu große Busen“ – antwortete Dora. Edit platzte fast vor Lachen. „Ach du spinnst! Die Jungs lieben große Brüste – also raus damit!“. Sie konnte Dora tatsächlich überzeugen, dass sie stolz darauf sein soll. Als ob Edits Gegenwart ein Erlaub auf die großen Busen wäre.
Dora ließ sich nicht einfach kritisieren. Mit der Bemerkung bekam auch Edit ihre Kopfwäsche: „Hör zu: Du weißt, ich mag dich sehr, ich kenn dich ja jetzt schon ‚ne Weile. Mir gegenüber hast du aufgetaut, aber die anderen wissen nicht wie cool du bist. Du musst mitmachen: Alkohol trinken, locker bleiben, einfach nur Spaß haben und nicht immer nachdenken!“
Es entstand ein Schirm der Freundschaft. Darunter regnete es nicht, gab es kein Hunger, keine Verletzungen, kein Not in Lachen.
Dann stritten sie einmal. Sehr sehr sehr. Nur wie Leute können, die den ganzen Tag zusammen sind. Sie schrien nicht, hauten nicht, nur sagten die paar harte Wörter: „Verpiss dich“, „Du auch“ und gingen in der U-Bahn auf einmal in zwei Richtungen, ohne es zu wollen. Aus Stolz und Dummheit. Beide fühlten sich elendig. Einerseits weil sie sich abends im Zimmer sowieso treffen werden, andererseits weil nach fünf Minuten vergaßen sie über was sie vorher gestritten haben. Aber es tat gut. Auf einmal fing an die Freundschaft eine höhere Bedeutung zu bekommen. Der Verlust veredelte irgendwie die andere Person. Und jetzt hatten sie sich in der Burg auf die Mauer gesetzt um es zu feiern.
Ohne die Großmutter fühlte sich Edit als ob ein altes und verlässliches Stück von ihr abgebrochen wäre. Sie wollte diese Trauer mit Dora immer teilen, aber hatte noch nicht Mut genug die Freundschaft damit zu beflecken. Wie eine unbenutzte Bettwäsche in dem sie noch nie geschlafen hatte: sie konnte nicht wissen ob es auch die schwitzenden Alpträume aufsaugen kann oder nur für bequeme, alltägliche Nächte geeignet ist.
Sie schauten  auf die Stadt. Sie war so klein, fassbar, man glaubte in einem Schwung könnte man sie in die Tasche stecken. Es war etwas Göttliches daran, so über die großen Plätze zu sitzen, die Fahrzeuge zu beobachten, wie sie durch die grauen Linien rannten, die Brücken, wie sie Buda und Pest aneinander klammerten.
Sie öffneten den Wein und Dora begann über ihre Männer zu reden. Edit lauschte wie ein Kind und die Magie begann. Nie dachte sie an Dora wie eine femme fatale oder überhaupt eine Frau, die Männer anziehen könnte. Aber wie sie ihre Liebhaber enthüllte, den Gitarrenspieler, den Schriftsteller, den Priester bekam Dora immer glitzernde Augen, schönere Haare, feinere Haut und hellere Stirn. Die Stimme wurde tiefer und ging bis in die feinsten Details, von denen man erröten konnte.
Es war toll, dass Dora jetzt keinen Freund hatte. Es blieb mehr aus ihr für Edit. Eigentlich alles. Sie wollte jetzt über ihre traurige Seite reden, aber irgendwie fand sie es schwer und ungewohnt. Edit wollte Dora sagen, wie sehr sie die Großmutter vermisst und wie wichtig ihr ist, dass sie es versteht, was ihr da aus den Händen genommen wurde als sie gestorben war. Vielleicht fand sie es zu schwul und traute sich deswegen nicht. Zuletzt hielt sie den Atem zurück, nahm einen langen Schluck aus der Weinflasche und spülte sich die Schüchternheit heraus. Ihre Ängste waren im Alkohol und der Dämmerung verdampft und als Dora aufhörte zu sprechen, begann sie.
„Weißt du, meine Großmutter war nicht die beste. Oder mindestens nicht für mich. Ich bin zu spät gekommen. Alle Enkelkinder waren schon fast erwachsen und sie hatte sowieso ihren Liebling mit dem wir anderen nie mitmachen konnten. Somit war der Wettkampf um ihre Liebe von Anfang an verloren, aber ich war auch die einzige, die immer mehr wollte. Sie hat mich enttäuscht und sie hat die falschen am meisten geliebt.
Aber mindestens war sie immer in derselben Stellen, hatte dieselben Vorhänge, die gleichen Blumen im Garten, die Universal Majonäse im Kühlschrank und Liptauer zum Abendessen. Auch ihre Möbel waren Uralt, seit hundertfünfzig Jahren haben sich alle Rücken der Familie daran gerieben. Bei ihr hat sich das Zuhause in alle Dinge hineingefressen, alles bedeutete etwas. Jedes Bild war eine Erinnerung an jemanden. Sie tauschte nichts aus, ließ das Radio von den frühen Achtzigern lieber reparieren, fuhr durch ihre weißen Haare mit demselben gelben Plastikkamm seit 1973. Und auch solche Menschen sterben, die im Gesicht auf jede Falte bestehen. Ach, Scheiße, warum müssen Menschen sterben???“
Sie fing an zu schluchzen und Dora umarmte ihre Schulter. Edit weinte laut mit vielen Tränen. Sie beugte sich über Dora, ihr Gesicht war dort wo das Dekolleté anfing. Nach einer Weile spürte die Freundin, wie die Tränen ihren Oberkörper kitzeln und sich in ihrem Bauchnabel sammeln. Aber sie hielt Edit fest und ließ sie nicht in ihrem Selbstleid untergehen.  
Die Sonne schien auf die zwei angerauschten Mädchen und hob ihren Hut um sie zu Grüßen. Neugierig und lange – ja, sogar neidisch! - sah sie die aufeinander gekippten Körper an, ging in ihre Haut, in das Blut, in die Augen und Schultern hinein um ein Stück ihres Strahlens zu stehlen.