Dienstag, 22. Januar 2013

Protestieren in Ungarn: Eine postkommunistische Entdeckung


Budapest vom Gellért-hegy
Es ist ein Gespräch im Bus. Von der Maria Theresien Straße bis zur Technik. Wie die Studenten schweigen. Sie schweigen hier und sie schweigen in Deutschland und sie schweigen in Ungarn und zu der Zeit (zirka 1968) als die gesprächsführende Dame noch jung war, haben die Studenten nicht geschwiegen. Die Studenten waren der Müll der Gesellschaft, der Satz im Kaffee, die Eierschale im Kuchen, der Stein im Schuh, alles von was der Staat kotzen musste. Ich horche ihr zu. Sie hat ja irgendwo recht. Eben ich müsste auf die Straße gehen und Polizisten bespucken, ich müsste Graffitis an die Wand spritzen "mehr Rechte für Asylwerber", "Rassists are lonely" und ähnliches. Aber ich mach' nix. Ich habe Ausreden. Ich muss immer arbeiten um mich über Wasser zu halten. Drei Jobs - die hab' ich - keine Freizeit zum protestieren. Ich muss zugeben, ich tu mir auch selbst leid - na klar, ich renne von Arbeit in die Uni und dann nach Hause um etwas zu essen um gleich darauf in die nächste Arbeit zu rennen. Der Hamsterkäfig, Kapitalismus. Mal einen ungerechten Polizisten zu beschimpfen oder den Strafzettel nicht bezahlen, das trau ich mich irgendwie nicht. Weil es einem hier doch so gut geht. In Österreich gibt es doch alles. In Tirol gibt es sogar mehr. Coole Infrastruktur, soziale Hilfen, Arbeitlosengeld, Notsandhilfe, Stipendien, Freizeitticket für etliche Skilifte und Schwimmbäder, Flohmärkte mit Sachen die man noch benutzen kann, "verschenke meine Küche, meine Schuhe, meine Waschmaschine, mein Kühlschrank", für jeden ein Smartphone mit Vertrag und auch im Keller Internet und Downloads für immer und ewig. Was soll ich bitte protestieren? Zum verändern muss man weg.
Schatten mit stolzer Kokárda am Herz

Die Knochen brechen, protestieren lernen

Ihre Töchter sind weg, erzählt sie mir im Bus. Ich sage, ich bin auch weg. Aber nicht weil ich protestieren will. Dann wäre ich in Ungarn geblieben. Weil, erkläre ich ihr weiter, in Ungarn, da muss man erstmal das Streiken lernen. Dort sind drei Generationen mit der Repression des Kommunismus in den Knochen aufgewachsen. Brechen wir die Knochen, setzen sie in Schiene und sehen zu ob es heilen kann. Knochen brechen schon, du weisst nur nichts davon, sage ich ihr. Proteste und Bewegungen haben den Ungarischen Staatspräsidenten Schmitt Pál nach seinem Plagiat gestürzt. Vor fünf Jahren wäre das nie passiert. Noch immer organisieren sich die Studenten gegen die Studiengebühren und die niedrigen staatlich finanzierte Plätze an den Unis. Etwas bricht, etwas kocht, was daraus wird? Das sieht man mit der Zeit. Aber, dass Ungarn nicht nur ein von politisch korrupten Politikern geführtes Land ist, welche extrem rechte Parteien ins Parlament schickt, dass will ich dir zeigen
Ich schweige nicht, ich sage es dir, ich sage es mit meinen Buchstaben, ich will eine bessere Welt, aber weiss nicht, was eine bessere Welt ist, denn ich denke, ich lebe schon darin. Und werde ich besser, weil ich den Müll trenne? Werde ich besser, weil ich mit dem Fahrrad fahre? Ich habe ein gutes Gewissen und wenn ich nach Hause gehe, meine Familie in Ungarn zu besuchen da bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Weil ich den Müll nicht trennen kann und kein Fahrrad habe und weil ich nicht weiss, warum Österreich so ein verdammt reiches Land ist und in Ungarn alles verschissen. Und dann bin ich wirklich stolz auf meine Freunde, die in Ungarn auf die Straßen gehen und Transparente in die Höhe halten, sich für ihre eigenen Rechte einsetzen und aus einem verschissenen Land das beste herausholen wollen. Und das hat ihnen niemand gezeigt, ihre Eltern haben das nie gemacht. 

Und ich sitz' hier in Tirol verschneit und glücklich und "reich" und langsam, langsam verstehe ich nicht mehr, warum ich aus meinem Land weggegangen bin, wenn es doch so schön auseinanderbricht und brodelt...