Freitag, 23. Januar 2015

Mein Körper

badezimmer-stilleben mit glatze
Immer kurz vor der nächsten Chemo geht es wieder einigermaßen, aber seit Weihnachten hat sich das verändert. Die Tränen, die aus irgendeinem unbekannten und unausschöpfbarem Teil meines Körpers kommen, werden nicht weniger. Sie fließen über mein Gesicht in der Früh beim Aufstehen, wenn ich aus dem Haus gehe oder wenn mich jemand von zu nah anspricht. Nicht weil ich traurig bin, sondern weil sich mein Auge so entschieden hat. Es ist eine sehr unangenehme Nebenwirkung und auch höllisch nervig, denn sie fließen, wenn ich nicht schnell genug bin in meinen Kragen hinein und machen alles nass und kalt.

Seit dem ich die Diagnose bekommen habe denke ich öfters nach, wie mein Körper aufgebaut ist. Wie wenig ich eigentlich über mich selbst weiß. Was unter der Haut und zwischen meinen Knochen ist, was eine Zelle ist, wo sich meine Leber befindet, wie meine Lunge aussieht. Und dann fällt mir oft dieses Buch ein, welches wir noch in der Wohnung in Ungarn hatten und welches ich geliebt habe. Es war schon damals, als ich zwölf war, mindestens hundert Jahre alt und stand im Wohnzimmer am Regal. Eigentlich waren es zwei Bücher. Eins über die Frau und eins über den Mann. Vorne war die Anatomie ihrer Körper abgezeichnet. Ich setzte mich an Regentagen vor das Regal auf den roten Teppich und konnte stundenlang diese Zeichnung ansehen. Die Körper waren in unterschiedliche Schichten geteilt, die man hin und herschieben konnte, öffnen und zumachen, wodurch sich Organe finden ließen und wieder zudecken. Der Körper war nicht ganz wahrheitsgetreu, einige Dinge stimmten nicht, das wusste ich, aber es faszinierte mich trotzdem, wieviel in mein Körper hineinpasst. Das Herz, der Darm, Drüsen, Adern. Die Neugier für meinen Körper verschwand und als ich richtig Teenie wurde konzentrierte sich das ganze nur noch auf die Geschlechtsorgane und auf das Äußere – wie ich mich möglichst attraktiv selbstgestalten kann und es Beginn das große Vergessen, was eigentlich unter meiner Haut verborgen steckt.

Nun habe ich eine Glatze. Vieles hat sich verändert seit dem ich zwölf war und jetzt wünsche ich mir das Buch wieder, welches ich seit dem Umzug von der Wohnung in das Haus mit Garten nicht mehr gesehen habe. Ich will wieder die Schichten öffnen, die Organe verschieben und mich in den Körper wieder verlieren, mir bewusst machen wie mein Blut in meinen Adern fließt und alles ein bisschen besser verstehen.
Meine Glatze stört mich meistens nicht. Nur ab und zu. Zum Beispiel wenn ich in an einem verregneten Samstag ins Hallenbad gehe, fühle ich, dass ich nun auch von Außen anders bin. Weil mich Kinder über ihre Schultern anschauen und kichern oder kleine Mädchen in der Dusche verstummen, wenn ich eintrete. Ich habe mir gedacht, dass mich das nicht stören wird und auf einmal fühle ich, dass das nicht stimmt und es mich höllisch stört. Und ich denke mir, so muss sich ein Schwarzer oder eine Schwarze fühlen in einem kleine Dorf in Österreich, wie ich mich jetzt fühle. Alleine, einsam, anders, ausgegrenzt. Ich ging auch bald nach Hause, denn ich passte einfach nicht ins Samstagsbild des Hallenbades: Familien, gesund und schön, mit ihren kleinen und halbgroßen Kindern, die voller Energie ins Becken springen.

Ich bin schon ungeduldig, will meine Haare wieder, meine alten Augenbrauen, meine Wimpern, meine Energie, die seit zwei Chemos drastisch verschwunden ist. Meine Schritte fühlen sich an als ob ich Steine an meinen Schuhen mitschleppen würde. Ich wünsche mir meine alten Finger zurück, statt denen mit den schwarzen Höfen an den Nägeln, die manchmal so wehtun können, dass der Schmerz bis zu den Knieen hinaufkriecht, Meinen alten Arm will ich zurücck, statt diesen linkischen, der anschwillt wie ein Luftballon und sich nicht strecken lässt, als ob er auf mich beleidigt wäre. Aber jetzt ist es gleich vorbei und ich muss nicht mehr lange warten und denke mit Freude an die nächste Chemo und singe laut ein Lied im Badezimmer: "Chemo, letzte Chemo" mit der Melodie von "Cheek to cheek".

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