Samstag, 6. Dezember 2014

Ordner

Ich denke ständig an Altersheime. In Altersheime an Zimmer. In Zimmer an alte Menschen. In alte Menschen an gebrochene Herzen. In gebrochene Herzen an Erinnerungen und Wünsche. Irgendwie bin ich auch so ein alter Mensch. Die Chemo macht mich fertig. Im Kopf. Sie macht mich müde. Anfangs war ich neugierig, wie das so ist, so eine Chemo. Ich war neugierig auf die Symptome, die mit der Hand zu fassen sind. Kotzen, Gelenkschmerzen, Haarausfall. Ich glaubte, das wär's dann auch. Aber was die Chemo im Kopf macht, ist viel schlimmer und ich denke daran, dass ich nicht mehr will.  Und ich bin erst bei der Hälfte. Alle anderen sagen, ich bin schon bei der Hälfte. Früher hätte ich das sicher auch so gesagt, aber das ist das schlimme an dieser Behandlung. Ich will nicht mehr - und das hätte ich über mich selbst nie geglaubt.

Ich habe einen Ordner. Es steht brustgesundheitzentrumtirol drauf. In diesem Ordner ist alles drinnen, was mein Brustkrebs ist. Ich bin aber unordentlich. Ich fülle es mit Briefen von der TGKK, Tilak, mit Prospekten über vaginale Gleitmittel auf Wasserbasis (einer der schlimmsten Nebenwirkungen: Sex ist einfach als ob ich Glassplitter eingeführt bekommen würde - trotz Gleitmittel) und einem Comicheft in dem Kinder erklärt bekommen, was Brustkrebs ist. Letztere ist das einzige, was mir gefällt. Jedes Mal, wenn ich ins Krankenhaus gehe, wird die Mappe dicker und bunter. Aus irgendwelchem Grund machen sie die Prospekte immer besonders bunt, besonders schön, als ob die ganze Krankheit Spaß machen könnte. Naja, sicher ist es keine Lösüng alles grau und schwarz zu machen. Das ist auch nicht die richtige Farbe. Es gibt einfach keine richtige Farbe für eine Krankheit.

Ich hasse Papierkram. Ich weiß nie, was wichtig ist, was nicht. Was darf ich wegschmeißen, was auf keinen Fall. Letztens habe ich wieder den falschen Pass mitgebracht. Statt Chemopass den Ambulanzpass. Der Chemopass ist blau und in ein Plastik eingehüllt. Da schreibt Dr. Salzer meine Gifte hinein. 120 mg, 572,15 mg und 600 mg. Mein Cocktail, der danach durch meine Adern rast. Wie ein verrückter Ritter schlägt er mich mit seinem Schwert von innen, so stelle ich mir meinen Cocktail vor. Rot, im Panzer, schwer, verrückt. Ich habe heute zum erstenmal in den Pass geschaut. Seit der ersten Chemo habe ich mehr Leukozythen und weniger Trombozythen. Es könnte auch sagen, ich habe mehr asjoékéaksék und weniger posdjfopjpga. Was ich definitv habe ist "keine Ahnung". Das macht mich auch ziemlich fertig.   

Ich war heute mal spazieren. Hier hinter dem Haus, Richtung Klamm. Es tat mir wirklich gut. Frische Luft belebt, auch wenn man es beim losgehen überhaupt nich glaubt. Andere Spaziergänger waren mit ihren Hunden unterwegs. Alle. Wenn ich Leute mit Hunden alleine unterwegs sehe, denke ich immer daran, dass die Abendkultur vereinsamt. Die Menschen sich nur noch mit Tieren verstehen können oder überhaupt nicht mehr. Wie dieser Mann, der in Innsbruck in einer Wohnanlage gestorben ist. Nur dann fiel er anderen auf, als man seine Leiche schon im Flur riechen konnte. Schnell geht das. So zu vereinsamen. Und man brauch nicht einmal irgendwelche unmöglichen Probleme haben. Man muss nur ein bisschen blöd sein. Das Telefon nicht abheben, wenn Freunde anrufen - weil man einfach mit niemandem sprechen will (gleichzeitig will man und will man nicht). Hilfe nicht annehmen, wenn sie angeboten wird - weil man es ohnehin alleine schafft (man schafft es nicht und auch nicht zu zweit). Nicht ausgehen - weil man sparen will oder zu faul ist, sich "hübsch" anzuziehen. Und nach einer Weile bleibt man stecken und je länger man im "nihil" steckt, umso schwieriger wird es wieder herauszukommen.

Ich dachte an meine Oma, die 93 Jahre alt geworden ist. An ihre Ordner in ihrem Haus. Wie sie schon mit 80 von ihrem Sohn abhängig war, der ihren Papierkram erledigte. Alle zwei Wochen. Wenn er zu Besuch kam. Obwohl die Oma noch so klar im Kopf war. Das sagte man immer über ihr, weil sie das Radio hörte und bis zum Ende wusste, wer die aktuellen Minister im Parlament waren. Klarheit macht Angst, an Klarheit verzweifelt man, vielleicht ist es besser für einen selbst, wenn man diese Klarheit einfach verliert.

Ich habe diese Situation vor meinen Augen: Meine Oma in ihrem riesigen Zimmer, links der dicke, dunkle Holzschrank, oben ihre Ordner. Mein Vater (ihr Sohn) streckt den Arm aus, nimmt einen der schwarzen Ordner herunter, meine Großmutter pfeifft "Nein, Jostikám, den anderen - ich will erst den anderen". Mein Vater sagt nur, das hier ist viel wichtiger und Oma bleibt still, weil sie keinen Einfluss darauf hat, was mit ihren Dingen passiert, was ihr aus dem Geschäft gekauft wird, was sie zu Mittag zum Essen bekommt. Vielleicht hat sie deswegen die Hausierer geliebt, die Zigeunerinnen mit den Kissen und Decken am Rücken, die ihr durch das Fenster ihre Waren anboten und sie konnte wählen, ob sie die Daune nimmt oder die Schafwolle. Und an Weihnachten schenkte sie mir die Schafwolldecke und ich fand die Decke fabelhat und ihre Augen strahlten und sie kicherte leise und gerissen und ihr Kopf wackelte, weil sie Parkinson hatte. Mein Vater verscheuchte die Zigeunerinnen immer sehr laut. Wir kaufen nichts und schlug das Fenster zu.




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