Montag, 10. November 2014

Rhinozeros

Langsam ist meine Krebshülle so, wie  es aus romantischen "in memoriam XY"-Fotoshootings oder amerikanischen Filmen zu sehen ist. Eine Haut, leer wie nasse Plastiktüte, ein Blick, fiebrig und nichtssagend. Jeden Tag schaue ich in den Spiegel, was hat sich verändert, was ist besser geworden, was schlechter, was anders. Auf meinem Kopf ständig eine Mütze, ein Tuch, irgendwas. Sonst fühle ich mich, wie ein rohes Ei.

Gestern musste ich nicht in den Spiegel schauen. Wem gehört das Bein da im Bett. Es ist meins, dünn, kreppig, Rhinzeroshaut, eine Satellitenaufnahme von einem abgetrocknetem Lavastrom. Es könnte auch jemand anderem gehören. Es könnte auch nur ein Bild sein. Ich kann das Bein lange anschauen und der Besitzer tut mir leid. Dann merke ich erst, dass ich mir selbst leid tue.

Obwohl ich so dünn bin, fühle ich mich, wie eine Kuh - überall stehen mir die Knochen heraus. An der Hüfte, den Knien, den Ellbögen. Wenn ich mit meinen Händen über mein Körper streife, erkenne ich mich nicht wieder.
Von heute auf morgen ist das gegangen. Meine Zähne sind viel zu groß. Als ob sie jemand nicht waagerecht, sondern senkrecht in meinen Mund gesteckt hätte. Oder ein falsches Gebiss, von einem Pferd. Es zerrt an der Nase, zieht das ganze Gesicht auseinander.
Aber Leute sagen, ich hatte noch nie so eine tolle Haut. "Pfu", sagte sogar eine Freundin und wedelte mit ihrer Hand, wie wenn sie etwas ganz heißes angefasst hätte. "Es ist so viel besser', meinte sie anerkennend, weil sie mich noch mit dem Aknefeld gesehen hatte. Und ich falle zwischendurch einfach auseinander.

Jetzt fängt's langsam an. Der Neid über andere. Über ihre Stärke, über ihre Haare, über ihr Lachen, über ihr Appetit. Ich versuche daran zu denken, dass nur noch vier Behandlungen kommen und mein Bild setzt sich auch wieder zusammen.

Als ich die vier Tage gefastet hatte, habe ich ständig Bilder von Essen angeschaut. Habe an Salat gerochen, an Kaffeebohnen und daran gedacht, wenn es mir besser geht, werde ich alles kochen. Und jetzt fühle ich mich unglaublich alt. Sechzig Jahre versetzt. Nichtsbewirkend. Unstark.
So muss es sein, in einem Altersheim, in dem Magazine liegen, der Tag vor sich hertrieft und man sich einen Schweinebraten mit Rotkraut und Apfel wünscht. Aber einen richtig guten, langgeschmort, mit super Kraut und Äpfeln und Semmelknödel. Und selbst kann man ihn einfach nicht mehr machen, weil sich die Hände nicht bewegen, die Füße, die Finger. Jeden einzelnen Schritt hat man im Kopf: Vom Karottenschneiden bis zum Ofen einschalten, sogar den Geruch von gebratenen Fleisch in der Nase. Und am Ende liegt man dann im Bett mit offenen Augen und sieht in eine Ecke, wo eine Spinne sich gerade vom Heizungsschalter langsam abseilt und alles egal ist.

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