Freitag, 17. Juni 2011

Wenn die Sonne zum Dieb wird


Es schien einfach aussichtslos zu sein. Sie konnte sich nicht an das Leben in der Stadt gewöhnen. Der Verkehrslärm, die Taubenherden, die Menschen auf der Straße, Pissflecken unterschiedlichster Umrisse. Das war einfach nicht ihre Welt. Nach jedem Spaziergang wollte sie ihre Schuhe wegschmeißen, ihre Lunge austauschen, ihre Augen in kaltes Wasser legen. Sie war erschöpft von all diesem neuen Abscheu.
Ganz anders hat sie sich die Uni vorgestellt. Es war irgendwie nicht aufregend, freundschaftlich und hektisch genug. Verstehen hat sie die Lehrer auch nicht. Die Vorträge waren zu theoretisch. Sie fand in ihnen nichts was sie auf ihr Leben bezüglich nutzen konnte. Ihre Probleme waren von einer ganz anderen Art: Wie das Geld einteilen, welchen Bus nehmen, wo joggen gehen.
Ihr fehlte all das, was Zuhause selbstverständlich war und ohne großen Aufwand zugänglich. Der Garten, die Freunde, der volle Kühlschrank, der See. Hier musste man für alles bezahlen und ihr floss das Geld durch die Hände als ob es Sand wäre. Sie dachte daran, wo die vielen Scheine wohl sind: In das Brot, die Bustickets, den billigen Rouge und die Schokoladen hätten sie sich verwandelt?
Ihre düsteren Gedanken vertrieben die frohen Studenten um ihr herum und sie hatte keine Lust ihnen nach zu rennen um zu beweisen, dass sie in Wirklichkeit eine ganz andere Person ist. Eine die liebt Bücher, Klimt, Kaffee trinken, Witze erzählen, ins Kino gehen ... Sie sehnte sich so sehr nach sich selbst. Ihrem echten selbst, den sie mochte.
Das Industriegebiet in dem sie lebte fand sie zwar interessant, aber hatte Angst es alleine zu entdecken. Dunkle Ecken, verlassene Gebäude, bellende Hunde. Zu zweit sieht man eher die historische Fassaden, kunstvoll verrostete Maschinen, mysteriöse Schatten. Ihre Mitbewohnerinnen konnte man auf nichts überreden. Sie waren langweilige und gestresste Architekturstudenten. Als Edit schlafen ging, waren sie noch am Hausaufgabenbasteln, als sie aufwachte, weinten sie über den zerstreuten Trümmern die sie vor Wut daraus machten. In etwas ganz anderes waren sie vertieft: materielles Wissen, gefühllose Karrierevorstellungen, maschinelles Benehmen. Keine Zeit für trostvolle Umarmungen, obwohl Edit es soeben gebraucht hätte.
Ihr starb über das Wochenende die Großmutter. Klar, sie war schon alt, aber trotzdem tot. Sie wollte dass ihr persönlicher Schmerz Vorrang vor der nächsten Klausur der Mitbewohnerinnen hat. Sie war wütend, dass die Mädchen nicht mal bemerkt haben, dass sie in der Ecke sitzt und über ihr Buch gebeugt weint.
Die letzten Erinnerungen kamen in ihr Gedächtnis. Die Großmutter war schon dreiundneunzig, eigentlich wieder wie ein Kind. Sie hatte sich verkühlt. Die Wangen waren Rosa, ihr Körper alt, die Adern zerstreut, alle Knochen standen draußen und die Haut hing herunter. Niemals sah sie die Oma nackt.
Nun musste die Großmutter ins Krankenhaus und sie wollte sich duschen. Dabei brauchte sie ihre Hilfe. Das dünne, farblose Nachthemd zog sie langsam über den zitternden Kopf. Sie hatte keine Brüste, keinen Scham, keine Haut. Der Körper war wie eine große Masse ohne bestimmten Umriss, ohne die Eigenschaften die sie bei dem Menschen kannte. Sie ähnelte eher etwas komischem, einem Denkmal oder einer irrsinnigen Skulptur. Liebevoll verblüfft rieb sie die Seife auf ihren kahlen Rücken und schmierte das Shampoo auf die Haare. Die Oma lachte langsam und stotternd, die Kraft schon lange verloren. Das sanfte Wasser und die schnellen Bewegungen unter ihrer Achsel kitzelten sie. Edit hatte Angst sie zu brechen. Als ob sie eine Porzellanvase waschen würde. Ganz vorsichtig wickelte sie die alte Frau in das Handtuch, half sogar beim Beinheben um aus dem Duschbecken auf den kalten, grünen Fließboden zu stehen. Jetzt föhnte sie die Haare, die warme Luft machte die Oma wieder müde. Edit musterte das vergreiste Gesicht. Sie sah neue Züge, eine andere, fast durchsichtig weiße Farbe und den Blick, der weit nach der kahlen Wand in ein unendliches Ziel hineinfloss. Nichts konnte man daraus lesen. Es war verschwommen, unklar, erschreckend. Edit wollte nicht, dass sich das Gesicht der Großmutter verändert!
In dem Zimmer wieder versuchte sie ein Gespräch mit ihr zu führen, aber es war mühsam. Die Erzählungen hatten kein Anfang, kein Ende. Die Großmutter stöberte in den Erinnerungen, riss die unterschiedlichsten Zeiten, Geschehen, zusammen. Krieg, Fehlgeburten, Liebhaber, Budapest, verstorbene Schwester, der Sohn, die Tochter, das Haus in dem sie geboren war. Edit küsste ihre Stirn beruhigend, hielt ihre zitternde Hand für ein paar Sekunden als ob sie darauf warten würde, dass die Oma aus diesem Delirium wieder aufwacht. Es geschah aber nichts, die alte Frau starrte weiter in die Ferne und bewegte die Lippen so langsam und schwer, als ob sie aus Metall wären. Edit fühlte sich so fern von ihr. Die Großmutter hatte um sich schon eine Welt, die sie nicht mehr verstehen konnte und ohne sich nochmals um zu drehen, trat Edit aus dem Zimmer.
 Sie kam einfach nicht mit dem Geld aus. Mit dem kalten Wetter musste sie mehr für die Miete bezahlen und außerdem gefiel es ihr nicht mit den Architekturstudentinnen zusammen zu wohnen.
Sie musste eine Lösung für ihre Geldprobleme finden und so begab sie sich nach der Vorlesung zu den anderen, die im Kreis standen, rauchten, gestikulierten, lachten. Ob sie ein freies Zimmer hätten. Ein Mädchen mit langen Haaren, grünen Augen, hektischen Bewegungen, und krumme Nägel meinte in ihrem Studentenzimmer gibt es zwei freie Betten. „Frag doch den Direktor“ – sagte es.
In ein paar Tagen war alles erledigt. Der Direktor erlaubte, dass sie einzieht. Sie konnte schon vor den Winterferien alle Kleider und Bücher an ihren Platz stellen. Sie hatte sogar Zeit ihre Bilder über das Bett zu hängen und aus dem Fenster über die Dächer von Budapest zu sehen. Sie war im neunten Stock und sie sah alles. Die Katze im Nachbarfenster, die Busse und Straßenbahnen, wie sie durch die Stadt wurmelten, ein Kran, der weit aus den Häusern herausstand, wie ein großer Vogel der auf Frösche jagt. Zum ersten Mal in der Stadt empfand sie einen ungewöhnlichen, milden Krampf in ihrer Brust.
Nach den Ferien zurück im Studentenheim begann das Leben richtig loszugehen. Die Mitbewohnerin, die mit den grünen Augen und krummen Nägeln, wurde auf einmal ein Stück des Alltages. Zusammen wachten sie auf, verspäteten sich in der Uni, gingen in die Kneipe und abends auf gratis Konzerte. Eines Nachmittags gingen sie in die Burg um den Sonnenuntergang anzuschauen. Zwei Flaschen Weißwein hatten sie dabei und ein wenig Schnaps: Das wird die Aussicht noch bunter machen.
Damals – auf den ersten Blick  - war die neue Freundin noch unsympathisch. Dora zog beim sprechen ihre Schultern hoch, der Nacken verschwand, sie kratzte ihre Haut an der Hand und wurde Quasimodo. Edit fragte sie warum sie das macht. „Ich habe zu große Busen“ – antwortete Dora. Edit platzte fast vor Lachen. „Ach du spinnst! Die Jungs lieben große Brüste – also raus damit!“. Sie konnte Dora tatsächlich überzeugen, dass sie stolz darauf sein soll. Als ob Edits Gegenwart ein Erlaub auf die großen Busen wäre.
Dora ließ sich nicht einfach kritisieren. Mit der Bemerkung bekam auch Edit ihre Kopfwäsche: „Hör zu: Du weißt, ich mag dich sehr, ich kenn dich ja jetzt schon ‚ne Weile. Mir gegenüber hast du aufgetaut, aber die anderen wissen nicht wie cool du bist. Du musst mitmachen: Alkohol trinken, locker bleiben, einfach nur Spaß haben und nicht immer nachdenken!“
Es entstand ein Schirm der Freundschaft. Darunter regnete es nicht, gab es kein Hunger, keine Verletzungen, kein Not in Lachen.
Dann stritten sie einmal. Sehr sehr sehr. Nur wie Leute können, die den ganzen Tag zusammen sind. Sie schrien nicht, hauten nicht, nur sagten die paar harte Wörter: „Verpiss dich“, „Du auch“ und gingen in der U-Bahn auf einmal in zwei Richtungen, ohne es zu wollen. Aus Stolz und Dummheit. Beide fühlten sich elendig. Einerseits weil sie sich abends im Zimmer sowieso treffen werden, andererseits weil nach fünf Minuten vergaßen sie über was sie vorher gestritten haben. Aber es tat gut. Auf einmal fing an die Freundschaft eine höhere Bedeutung zu bekommen. Der Verlust veredelte irgendwie die andere Person. Und jetzt hatten sie sich in der Burg auf die Mauer gesetzt um es zu feiern.
Ohne die Großmutter fühlte sich Edit als ob ein altes und verlässliches Stück von ihr abgebrochen wäre. Sie wollte diese Trauer mit Dora immer teilen, aber hatte noch nicht Mut genug die Freundschaft damit zu beflecken. Wie eine unbenutzte Bettwäsche in dem sie noch nie geschlafen hatte: sie konnte nicht wissen ob es auch die schwitzenden Alpträume aufsaugen kann oder nur für bequeme, alltägliche Nächte geeignet ist.
Sie schauten  auf die Stadt. Sie war so klein, fassbar, man glaubte in einem Schwung könnte man sie in die Tasche stecken. Es war etwas Göttliches daran, so über die großen Plätze zu sitzen, die Fahrzeuge zu beobachten, wie sie durch die grauen Linien rannten, die Brücken, wie sie Buda und Pest aneinander klammerten.
Sie öffneten den Wein und Dora begann über ihre Männer zu reden. Edit lauschte wie ein Kind und die Magie begann. Nie dachte sie an Dora wie eine femme fatale oder überhaupt eine Frau, die Männer anziehen könnte. Aber wie sie ihre Liebhaber enthüllte, den Gitarrenspieler, den Schriftsteller, den Priester bekam Dora immer glitzernde Augen, schönere Haare, feinere Haut und hellere Stirn. Die Stimme wurde tiefer und ging bis in die feinsten Details, von denen man erröten konnte.
Es war toll, dass Dora jetzt keinen Freund hatte. Es blieb mehr aus ihr für Edit. Eigentlich alles. Sie wollte jetzt über ihre traurige Seite reden, aber irgendwie fand sie es schwer und ungewohnt. Edit wollte Dora sagen, wie sehr sie die Großmutter vermisst und wie wichtig ihr ist, dass sie es versteht, was ihr da aus den Händen genommen wurde als sie gestorben war. Vielleicht fand sie es zu schwul und traute sich deswegen nicht. Zuletzt hielt sie den Atem zurück, nahm einen langen Schluck aus der Weinflasche und spülte sich die Schüchternheit heraus. Ihre Ängste waren im Alkohol und der Dämmerung verdampft und als Dora aufhörte zu sprechen, begann sie.
„Weißt du, meine Großmutter war nicht die beste. Oder mindestens nicht für mich. Ich bin zu spät gekommen. Alle Enkelkinder waren schon fast erwachsen und sie hatte sowieso ihren Liebling mit dem wir anderen nie mitmachen konnten. Somit war der Wettkampf um ihre Liebe von Anfang an verloren, aber ich war auch die einzige, die immer mehr wollte. Sie hat mich enttäuscht und sie hat die falschen am meisten geliebt.
Aber mindestens war sie immer in derselben Stellen, hatte dieselben Vorhänge, die gleichen Blumen im Garten, die Universal Majonäse im Kühlschrank und Liptauer zum Abendessen. Auch ihre Möbel waren Uralt, seit hundertfünfzig Jahren haben sich alle Rücken der Familie daran gerieben. Bei ihr hat sich das Zuhause in alle Dinge hineingefressen, alles bedeutete etwas. Jedes Bild war eine Erinnerung an jemanden. Sie tauschte nichts aus, ließ das Radio von den frühen Achtzigern lieber reparieren, fuhr durch ihre weißen Haare mit demselben gelben Plastikkamm seit 1973. Und auch solche Menschen sterben, die im Gesicht auf jede Falte bestehen. Ach, Scheiße, warum müssen Menschen sterben???“
Sie fing an zu schluchzen und Dora umarmte ihre Schulter. Edit weinte laut mit vielen Tränen. Sie beugte sich über Dora, ihr Gesicht war dort wo das Dekolleté anfing. Nach einer Weile spürte die Freundin, wie die Tränen ihren Oberkörper kitzeln und sich in ihrem Bauchnabel sammeln. Aber sie hielt Edit fest und ließ sie nicht in ihrem Selbstleid untergehen.  
Die Sonne schien auf die zwei angerauschten Mädchen und hob ihren Hut um sie zu Grüßen. Neugierig und lange – ja, sogar neidisch! - sah sie die aufeinander gekippten Körper an, ging in ihre Haut, in das Blut, in die Augen und Schultern hinein um ein Stück ihres Strahlens zu stehlen.

Freitag, 27. Mai 2011

London, der Papst der Städte

London at first sight

London ist der Papst der Städte. Man muss ihm einfach den fetten Ring an der Hand küssen, denn es hat die Fähigkeit Leute in den Bann zu ziehen, fesseln und die Geldbörsen öffnen. Auch wenn man kein Geld hat, prügelt jede Bar und Restaurant schwer ersparte Pennies heraus, vor allem wenn man mit Freunden unterwegs ist.
Es macht kein Sinn über die Sehenswürdigkeiten von London zu schreiben: Es gibt genug Berichte, um damit die Themse zu füllen. Aber ich wurde do beeindruckt, dass ich nicht wiederstehen kann darauf zu reflektieren. Eigentlich schreibe ich über mich, nicht über London.
Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich mich in einer Metropole. Ich kenne eigentlich nur eine Großstadt wirklich, Budapest, und diese ist eine sehr schlichte und farblose im zusammengleich zu London. Die Menschen, die Gebäude, die Straßen – alles regt sich, zittert und ist übertrieben. Eigentlich ist es keine speziel schöne Stadt – es ist nicht überpackt von unter Denkmalschutz stehenden Häusern und hat eigentlich viel zu viel Industriegebäude, die man auch gerne hässlich nennen kann. Aber in der Beleuchtung der Englischen Geschichte, wird es dann doch zum historichen Szenario. Man denkt daran,  von hier wurde die Welt erobert und ein bissl versteht man es schon warum.

Honglondon

Die Stadt ist fett von Touristen. In Chinatown konzentriert sich dann die Menge und wird zu einem lustigem, wie auch furchtbarem Durcheinander. Immer Schritt halten mit den anderen, warten, wenn jemand etwas langsamer ist, nur nicht verführen lassen und stehen bleiben, wenn die anderen dich nicht sehen und nicht reagieren. Aber das ist schwer, da es doch so viel zu sehen gibt! Mal halte ich bei den Enten, die fertiggebraten und glänzend, mit Kopf und Schnabel im heißen Schaufenster hängen, mal sehe mich mir die Riesenkrabbe an, die im Lebensmittelgeschäft in einer Kiste auf dem Rücken liegt und sich noch bewegt, mal verblüfft mich eine Notize, die jenen Mann sucht, der eine vierköpfige Familie ermordet hat. Mir wird heiß und ich bin froh kein Chinese, sondern nur ein durchlaufender Tourist, in Chinatown zu sein.
Wir wohnen bei einem Freund, Edmond. Wenn man die Augen zu macht und ihm nur zuhört, ist er typisch Englisch und alles ist eindeutig, wenn man sie öffnet, ist er ein Chinese mit dem perfekten britischen Akzent. Alle seine Freunde sind so wie er. Es ist verwirrend, da in meinem Kopf sich eine Stereotype von einem Chinesen geprägt hat, der zwar versucht eine Fremdsprache zu sprechen, aber bei der Aussprache lediglich scheitert. Ich schäme mich und verstehe nun, dass eigentlich ich diejenige bin, die die Fremdsprache nicht beherrscht.
Als Fanatiker der billigen chinesischen Küche, bin ich unglaublich froh mal VIP Gast zu sein. Die Eltern von Edmond betreiben ein Buffet etwas ausserhalb von Chinatown und wir haben freie Wahl. Alles wird gekostet. Die, in Palatschinken gewickelte, knusprige Ente mit klein gehackten Zwiebeln, Gurken und salzigem Pflaumenmousse verschwindet eins nach dem anderen, ohne Halt, in Carlos‘ Mund. Mein Lieblings‘ ist das mit Pilzen gekochte, saftige Huhn, hakka mun gai – eine Spezialität aus dem Kanton der Mutter. Dazu trinken wir Tiger Bier. Bald treffen auch andere Chinesische Freunde ein. Eigentlich fühle ich mich mehr in Hongkong als in London.  
Wir essen und trinken uns durch den ganzen Aufenthalt. Wir haben zwar gar kein Geld dabei, aber Onkel Edmond schiebt uns dreißig Pfund pro Kopf rüber und seine Visitenkarte. Sicher ist sicher: Wenn wir verloren gehen, können wir überleben, bis er uns rettet. Da ich mein Telefon in Österreich vergessen habe, mach ich mir etwas sorgen ob ich wohl eine Zelle finde. Ganz überflüßig, da es doch kaum etwas mehrfotografiertes in London gibt, wie die roten „phone boxes“.

Brick lane

Am zweiten und letzten Tag, gehen wir nach Brick lane um den Markt zu sehen. Zum Frühstück essen wir Beigl mit salzig gekochtem Rindfleisch und scharfem Senf. Der Laden ist vierundzwanzig Stunden, sieben Tage der Woche geöffnet und ist immer voll. Bis wir vor der Tür stehen, tritt ein Herr zu uns und – soweit ich mich erinnere – fängt er auf einmal an mit uns zu sprechen. Er erzählt erst über den Laden,  dass die Beigl erstmals von jüdischen Einwanderern verkauft worden sei und seitdem brauchen die Eigentümer sich keine Sorgen mehr machen, da es einer der heißbegehrtesten Speisen ist vier Uhr morgens. Hier kann man immer was neues herausfinden und wenn es funktioniert, wird es überall, meint er. Dann zeigt er auf die Straße, wo ein Verkäufer des Sonntagsmarkt seinen Stand etwas organisiert – alte Taschen, Nähmaschinen, Sessel. Und er gibt uns ein Tipp: „ Schmeisst eure alten Sachen nie raus – nach dreißig Jahren kauft es jemand für den hundertfachen Wert in Brick lane!“ Er lacht, im Korb hat er nur Kräuter, und geht weiter. Es ist schon zehn Uhr und ich denke mir, in Österreich läuft der Flohmarkt zu dieser Zeit schon Vollgas. Hier fängt man soeben an, kaum gibt es welche die schon was verkaufen. Man kann es eigentlich nicht vergleichen. Der Flohmarkt in Innsbruck ist billig, es werden Sachen verkauft die man nicht braucht, alles ist auf einem Haufen und man muss die schönen Stücke herausgraben, finden. In diesem Markt hier werden auch beinahe dieselben Sachen verkauft, nur werden sie aufgehängt inmitten von Dekoration und werden begehrt, da es von Brick lane stammt.
Ausserdem gibt es viele Künstler. Für zehn Pfund kann man T-Shirts kaufen, die man nie zuvor gesehen hat, man sieht kleine Stände, wo man die Couisine der ganzen Welt durchkosten kann: Paella aus Spanien, Curry-gerichte aus Asien, Italienische Pizza, Argentisches Grillfleisch, und, und, und. Meine einzige Errungenheit hier ist ein Caffé Latte zum mitnehmen. Carlos trinkt sein Mate, typisch argentinisch und ich zeige auf eine Frau, dessen Idee mir sehr-sehr gefällt. Sie klebt getrocknete, gepresste Blätter an die Wand, von denen sich kleine, aus Holz geschnitzte Menschenfiguren festhalten. Als würden sie wegfliegen. Es sieht sehr fein und zerbrechlich aus. Carlos schlürft an seinem Bombilla, die Frau dreht sich um und sie fangen an miteinander zu sprechen. Natürlich ist sie aus Argentinien. Ihr Mate steht auch hinter ihrem Rücken auf den Tisch.

Sight seeing

Danach schauen wir uns noch etwas um. London Bridge, Tower, Doppeldecker, Spaziergang an der Themse und das Globe Theater. Das letzte für mich „very touching“, ich freue mich da zu stehen, wo mal vielleicht Shakespeare auch gestanden hat. Dann Millenium Bridge, St. Paul Cathedral, Fish and Chips und die vielen Nelson Mandelas, verkleidet als Chruchill, Zweiter Weltkrieg Denkmal, reitender Ofizier, etc.


Feel the fever, baby

Abends gehen wir dann in Camden Town, glauben das wir wahrhaftig ein Punkzoo finden werden, dass wir Bilder machen können über Tomahawks und abgerutschte Leben. Ein bissl täuschen wir uns schon. Nicht viele Punks tragen mehr Tomahawks, aber mindestens einen haben wir erwischt. Der kam aus Italien. Die neuen Punks sind noch viel bunter. Wie der Fleischwarenhandel im Supermarkt. Fette Leute, dünne Leute, sommerlich und winterlich angezogene, mit Mütze oder ohne, Piercings oder keine, Macho oder Schwul, und, und, und.
Es ist sechs oder sieben Uhr, Carlos wird hungrig. Die Stände wollen schließen und versuchen ihre Waren noch schnell zu verkaufen. Sie rufen „just three punds, everything just three punds“ und ein chinesisches Mädchen sieht Carlos‘ forschende Augen und ruft dazu „darling, come here, just three pounds“. Sie hat gewonnen, "darling" geht zu ihrem Buffet, steht vor dem Zeichen „mix everything“ und wählt. Das ganze ein bissl wie Fastfoodprostitution.

Wir gehen in eine Bar in der Nähe und ich trinke Cider, zum erstenmal. Das neue Lieblingsstück in meinem Repertoir, es ist einfach sooo lecker. Es schmeckt wie sauere Apfelschorle und wird serviert in Bierflasche. Auf einmal wird mir ganz heiß und ich verwickle mich mit Kasia, unsere in London wohnende punk Freundin, in ein heftiges, moralisch gepregtes Gespräch über arm und reich, Wirtschaftskrise, Zukunft, Wohnung. Sie erzählt darüber, dass sie 500 Pfund für ein Zimmer bezahlt und dass sie zirka 1200 verdient. Mit zwei Jobs: als Vollzeit Sekretärin und Wochenend Kellnerin. Nachdem sie all ihre Schulden abbezahlt hat, bleibt ihr kaum was übrig, über das Schlafen und Spass haben ist dann auch noch keine Rede. Leider ist ihr Fahrrad auch in Trümmern, da sie ein Auto angefahren hat und sie sich das Arm gebrochen. Jetzt wartet sie darauf, dass der Typ ihr den Schaden bezahlt und sie sind schon vor Gericht. Dann kommen wir auf den Schluß, dass die armen Leute armer werden in der Wirtschaftskrise, und die Reichen lesen es nur in der Zeitung. Eine Claudia Schiffer wird immer genug Geld haben um eine Wohnung für 1000 Pfund pro Woche zu mieten. Kasia ist Sekretärin bei einem luxus Immobilienmarkler und weiss Bescheid wer sich was leisten kann.

Im zusammengleich zu Kasia ist mein Leben noch ziemlich geklärt und jegliches meckern über meine „schwere“ Situation ist lächerlich. Ich habe genügend Freizeit, nimm mir genug Schlaf und kann ein Paar Scheine an die Seite legen für meine Träume…
Aber in London wundere ich mich nicht, dass das Geld sich in kürzester Zeit in Nichts auflöst. Man kann es an zu vielen Stellen ausgeben. Es gibt irre viele Religionen zu leben, Straßennamen, berühmte Geschäfte und zierliche Pubs, die ihren Anteil von der Geldbörse fordern. Wie halt der Papst der Städte...

Freitag, 20. Mai 2011

Ich verstehe den Mann, der Hitler versteht

Ich empfühle für Lars van Trier das Mitleid eines Menschen, der ganz genau weiss, wie es ist sich zu enttäuschen und mit dem Gefühl nicht rechtzukommen. Es stimmt, er hat etwas abscheuliches gesagt, dass er Hitler versteht. Den, den die Gemeinschaft, zu Grund, zum umenschlichstem Mensch der modernen Geschichte, erklärt hatte.
Aber das ist nun mal was ein Künstler macht. Er muss das sagen, er muss versuchen zu verstehen warum Deutschland einen Mann wie Hitler Platz gelassen hat, denn es ist seine Aufgabe die Welt zu zeigen in ihrer ganzen Grausamkeit. Und bis nur Lars Van Trier ein individuelen Weg zu der Geschichte seines Vaters und somit zu sich selbst sucht (wie so viele skandinavische Leute, die in den 40-er, 50-er Jahren, von Besetzern des Deutschen Bundesheers geboren sind), gibt es Abertausende über dessen Rassismus sich Europa nicht empört, obwohl diese Mengen die echte, moderne Gefahr sind. 
Der das Interview gesehen hat in dem er sich äussert, der hört das Zögern in den Worten, hört die Bemühung um etwas zu erklären, das er nicht erklären kann. Der Fehler dieser äusserung - weil ein Geständnis ist es wohl nicht - liegt in der Wahl des Publikums und des Zeitpunktes. Als ob er vergessen hätte, dass Allerwelt soeben Cannes vor den Augen hat, dass sogar besprochen wird ob Brad Pitt oder Johnny Depp die coolere Sonnenbrille trägt. Natürlich dröhnt ein Satz wie dieser somit viel lauter, erschrekender und unmoralischer als sonst: "Ich verstehe den Mann, ich verstehe Hitler".
Große, erfolgreiche, gekürte Künstler, die in ihrem persönlichen Leben unsympatisch, rassistisch, pedofil oder gar alle drei waren, kann man in einem Atemzug auflisten: Thomas Mann, Knut Hamsun, Picasso, usw. Aber was man ihnen nicht wegnehmen kann, dass muss man ihnen lassen - ihre Kunst, ihr Wissen, die Originalität. Wie Madam Chauchats egsotisch-mongolisches Gesicht beinflussend auf weibliche Wesen in unserer Erinnerung steht, wie die entzerrten Figuren Picassos Fragezeichen in uns einbrennen, wie Hamsun das Leiden des nordischen Menschen so schmerzhaft beschreibt. 
Von Trier ist nun gar nicht in diese unsympathische Reihe zu setzen, da er mit seinen Filmen neben marginalen, kleinen, zerqutschten Schichten der Menschheit Platz nimmt. Und er WILL ja auch so. Im Interview sagt er, er dachte er sei Jude, wollte immer Jude sein und auf einmal ist er doch Nazi. Auf einmal kommt die Maske runter und hervorscheint was er nie gedacht oder gewollt hätte - seine blauen Augen, blonde Haare sind nicht die der Erdrückten, sondern die der Erdückenden.
Und Cannes, im unmenschlichem und hochmoralisierendem Ton der Medien, gibt noch einen schwarzen Nazistempel auf seine Stirn, somit Von Trier sich über die Falschheit seiner Bemerkung gar nicht irren kann. 

Ich bin froh, dass Cannes Von Trier, den Regisseur, aus seinem gerottenen Magen herausgespuckt hat. Neue Themen, neue Aufmerksamkeit macht die Luft heiß in der schlappen Filmwelt. 
Nur die zerbrechliche Eitelkeit des einsamen und suchenden Menschen gibt mir das Gefühl ihn umarmen zu wollen und lassen, dass er seinen ungewollten Nazismus mit salzigen Tränen entseucht...