Dienstag, 2. Dezember 2014

Brief

Immer ist es das gleiche. Mit oder ohne Fasten. Die ersten Tage nach der Chemo geht's gut und dann fällt alles auseinander. Dann sehe ich meinen Körper, wie aus dem All, dann fühle ich meine Nägel, wie angeklebt, dann bleibe ich mit den restlichen Stoppeln im Kissen hängen. Ich bewege meine Beine, meine Arme, aber sie sind immer ungemütlich, unpassend. Sie sind heiß oder kalt, sie sind steif oder zu weich. Meine Augen als ob sie auch von jemand anderem wären. Meine Hände, als ob sie von ganz weit kommen würden, bis ich mit ihnen mein Gesicht, meine Knie, meine Füße anfasse.

Wie der Brief von meiner Tante. Wer schreibt schon Briefe, heute. Seitdem ich Krebs habe, ist das nun der zweite Brief von ihr. Mit richtigen Wörtern, Buchstaben, Unterschrift. Nicht eine Postkarte. Nicht schön oder zierlich. Einfach nur ein Brief. Hat mir gestern der Postmann gegeben. In die Hand. Er hat zweimal geklopft, so stark an der Tür, dass ich aufstehen musste und öffnen. Sonst fällt er noch samt Tür ins Haus. Vier Briefe. Greenpeace, Tilak, Ärzte ohne Grenzen und das von meiner Tante. Sie hat eine schöne Schrift. Sie ist ein bisschen verrückt und deswegen wundert es mich, wie schön und geregelt ihre Schrift ist. Sie zittert auch stark, aber das merkt man an den Buchstaben kaum. Ich habe auch viele Briefe geschrieben, einige habe ich auch bekommen. Vor allem von meiner Schwester. Als es noch kein Internet gab und das Telefonieren teuer war. Die habe ich noch immer. Ich wahre sie in Bonbonschachteln auf, sie sind im Schrank bei meinem Vater. Und wenn ich ab und zu nach Ungarn fahre, mache ich die Schachteln auf und lese die Briefe bis weit nach Mitternacht und bin den nächsten Tag müde.

Ich liege also im Bett mit den vier Briefen. Ich lasse Greenpeace und Ärzte ohne Grenzen einfach auf C.-s Betthälfte liegen und öffne den kleinen, weißen Umschlag. Ein A4-Blatt in Hälfte gefaltet, dann quer drauf losgeschrieben. Kedves A. – Liebe A. mit Diminutiv. Und große, luftige Zeilen, in fünf Minuten ist das ganze gelesen. Ein so großer Aufwand. Briefumschlag besorgen, auf die Post gehen, in der Schlange stehen und in einer Woche bekomme ich die Paar Zeilen. Wir sprechen kaum mit meiner Tante. Sie lebt in Ungarn, in meinem Heimatort und dorthin fahre ich kaum mehr, seitdem die Oma tot ist. Eigentlich ist ja immer alles beim Alten. Nur, dass sie (meine Tante und mein Onkel) auch von Jahr zu Jahr älter werden, weniger oder mehr essen, das Bad renovieren und sich nach ihren Kindern sehnen, die im Ausland oder in einer anderen Stadt leben. Dann sprechen wir ab und zu an meinem Geburtstag.

Meine Tante schreibt über ihre Kinder. Der kurze Brief macht mich zutiefst traurig. Mit meiner Cousine und meinem Cousin habe ich schon seit Jahren nicht gesprochen. Meine Cousine hat lange in Dänemark studiert und lebt nun mit ihrem Freund seit vielen Jahren dort. Sie muss jetzt um die 33 Jahre alt sein. Sie arbeitet in einem Lager und sortiert Ersatzteile (die übrigens in Ungarn hergestellt wurden). Ihr Freund ist "Mädchen für Alles" bei einer Familie, versorgt die kranke Mutter, füttert die Tiere am Bauernhof. Meine Tante schreibt: Sie sind mit ihrem Lohn zufrieden, aber wollen natürlich nicht von hier in die Pension gehen. Scheiße, denke ich mir nur und irgendwie erdrückt mich die ganze Misere. Die vielen Kinder, die mit ihrem Diplom in den Westen gehen, ihre Eltern verlassen und dann doch nicht Fuß fassen können. Es drückt schwer auf meiner Lunge und meinen Augen. Als ob ich diese Misere hätte. Als ob das auch mit mir in jedem Moment passieren könnte. Wusch, der Teppich weg unter meinen Füßen. Eine Krankheit, etwas das dich aus dem Konzept bringt. Das Leben ist ja nur ein Kartenhaus. Ich lege den Brief zu den anderen auf C.-s Betthälfte und denke an die letzte Zeile, die meine Tante geschrieben hat. "Wir haben keine Berge, aber wenn Ihr die Möglichkeit habt, sehen wir euch gerne." Ich bleibe aber liegen und glaube, dass alles zu vergänglich und skurril ist.

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