Sonntag, 5. Februar 2012

Eine auftauende Gesellschaft im Frost

Was weißt du schon über die Obdachlosen? Jetzt gerade weißt du, dass sie frieren. Das weißt du, weil du selbst frierst wenn du auf die Straße gehst. Deine Nasenlöcher kleben zusammen, wenn du atmest, deine Finger werden steif, wenn du die Handschuhe ausziehst, deine Brustwarze wird hart, wenn sich der Schal lockert. Jetzt denken wir an sie, sie tun uns leid, aber an den anderen 350 Tagen bechäftigen wir uns nicht mit ihnen.
Als ob die Gesellschaft erst im Frost seine Obdachlosen sehen würde. Obwohl diese auch in anderen Zeiten leiden. Niemand will auf versteinert erfrorene Menschen stoßen, sie finden oder auf der dunklen Straße über sie stolpern. Das ist nähmlich unheimlich. Die Angst treibt uns, vielleicht auch das Mitleid, aber das sind nur egozentrische Eigenschaften. Diese lassen die Probleme nicht verschwinden, sie drehen sie nur um, wie ein Bild, das man nicht von der Wand nehmen kann, weil es so hart festgenagelt wurde. 
So ist auch das Problem mit den Obdachlosen. Wer kein Dach über dem Kopf hat, der hat gar nichts. Er hat keine Privatsphäre, keine Freunde, keine Tickets für die U-bahn, kein frisches Brot schweige darüber, dass er die Möglichkeit hat minutelang heißes Wasser über seinen Körper spülen zu lassen, seine Füße in gepolsterten Pantoffeln zu stecken oder sein Kopf auf ein sauberes Kissen legen zu können. Stell dir nur vor! Über all das über was du dich aufregst - es gibt für einige Stunden keine Heizung, der Strom ist ausgefallen, der Reparateur muss angerufen werden, weil es Rohrbruch gab! - hat der Obdachlose nicht einmal die Möglichkeit zu denken. Diese Leute müssen Tag zu Tag mit der Stadt und der Gesellschaft ringen und sie werden auch den Rest ihres Verstandes versaufen um nicht nachdenken zu müssen. Lieber wählen sie den Rausch, den Weinatem als das, dass sie den Alltag in seiner Wirklichkeit erleben müssen. Die Tritte, die versenkten Blicke, die auf sie geworfenen Zigarettenstümmel, den Hunger, das Leben ohne Liebe.
Und jetzt wird das Kollektive auf einmal auf sie aufmerksam. Die Obdachlosen bekommen 15 Minuten Ruhm und dann werden die Bildschirme wieder schwarz, die Artikel werden leer und als ob sie nie gewesen wären, verschwinden sie aus unserem Bewusstsein.
Es gab einmal einen alten Herrn in Budapest. Seine Stimme weinte laut: Kaufen sie Blumen von mir, bitte - klagte er. Es war herzzerreißend. Er war kein Obdachloser aber ich kann mir leicht vorstellen, daß er seitdem einer geworden ist. Er hatte einen ausgetragenen Hut auf dem Kopf, einen geschnitzen Stock in der Hand und vor sich in drei Joghurtbechern Schneeglöckchen, dessen Köpfe traurig auf den Marmorboden der roten U-bahn hangen. Wie könnte ich ihm helfen? Wenn ich seine Blumen kaufe, ist er nur für den einen Moment froh. Das Geld reicht für ein Brot und was ist danach? Was wird er morgen essen, mit was wird er heute einheizen? Wo ist die Gesellschaft, die in zudeckt, wenn er friert, ihm die Medikamente kauft, wenn er hohen Blutdruck hat und ihm die zitternde Hand hält wenn er stirbt? Warum muß man die Alten und die Obdachlosen anscheißen? Warum sind sie nur dann Present im Allgemeinwissen, wenn die Situation sich verschärft? Wenn das Glas schon überläuft, wenn der Frost ins Land kommt?
Natürlich muss man ihnen auch jetzt helfen. Gerade jetzt, wenn das Blut in den Adern gefriert. Aber warum muss man sie vergessen, wenn sie "einfach nur so" auf der Straße leben?
Die christlichen Gemeinschaften, Zivilorganisationen tun viel für diese Leute, aber auch ihr Geld, Arbeit, Kraft hat ein Ende. Warum müssen diese Obdachlosen überhaupt in diese Situation geraten? Warum hat man den Teppich unter ihren Füßen weggezogen?
Vor kurzem habe ich ein Artikel über die Situation der Leute in der Ebene Ungarns gelesen. Wie sie mit dieser Kälte zu recht kommen werden. (Der originale Arikel ist hier zu lesen: http://nol.hu/belfold/20120202-masok_elott_senki_sem_fog_megfagyni) Wie kann es sein, dass in einer Gemeinde in der 4200 Menschen leben, 2 Obdachlose sind? Die Einwohner der Gemeinde müssen diese doch kennen, es ist ja unmöglich ihnen aus dem Weg zu gehen! Vielleicht können die Leute sie sogar an ihren Namen. Der Feri hat sich wieder mal vollgepinkelt oder die Gina zeigt ihren Arsch und wir haben sie fast überfahren, weil sie konnte nicht gerade am Gehsteig gehen. Aber Gina wird sich immer wieder besaufen und der Feri wird sich auch wieder und wieder in die Hose machen.
Der Obdachlose geht auch zum Geschäft, zur Bäckerei, an den Bahnhof, weil er sich ja bewegen muss, wenn er nicht erfrieren will. In der Hauptzeit hofft er es wird einmal besser, wärmer, schöner und auch dieser Tag wird ein Ende haben. Vielleicht wird es ihm auch einmal möglich sein im Geschäft für das eigene Geld Salami und Zitrone zu kaufen und nicht betteln müssen. Aber heute muss er daran denken, dass die Sonne untergeht und wenn alles gut passt wurde seine Decke nicht von einem Hund bepisst, die Unterführung ist auch nicht so durchnässt und es heute nicht schneien oder regnen wird und der Wind auch wegbleibt.
Aber was kann er wirklich tun, wenn die Herze und Türen der Gesellschaft vor ihm zugesperrt sind? Er braucht übermenschliche Kraft um einmal aus dem Loch zu kommen. Es ist schon schwer genug von Null alles anzufangen und wenn jemand so ein schwarzen Schicksal bekommen hat, dann braucht er einen ganz großen Anlauf. Und das könnte zum Beispiel die hilfreiche Gemeinschaft sein mit offenen Gedanken und Einfühlsvermögen oder der Staat mit einem tollen Programm in dem diese Leute beschäftigt werden können. Sie haben doch auch zwei Hände, Beine, Augen und auch Hoffnungen und Träume und dafür muss man ihnen nur ein Forum geben in dem sie diese benutzen können. Gibt ihnen doch Holz zum schnitzen, Kabel zum zusammenknüpfen und Rohre zu verlegen! Alldas möglicherweise noch vor dem der Frost sie mitnimmt...

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